“Welt”-Recherchen weisen darauf hin, dass die Ampel-Regierung und das Bundesverfassungsgericht in regelmäßigem Kontakt standen – per Telefon, Brief, bei Empfängen, Abendessen und Konferenzen. Allein 2024 tauschten sich Mitglieder beider Institutionen dutzendfach aus, auch Kanzler Scholz sprach direkt mit Gerichtspräsident Harbarth. Offiziell „ohne Verfahrensbezug“. Doch wie beeinflusst das die Gewaltenteilung und die richterliche Unabhängigkeit, die immerhin zentrale Pfeiler der Demokratie bilden?
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Berlin / Karlsruhe.(multipolar) Die Kontakte zwischen Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht bleiben eng. Nach Recherchen der Tageszeitung „Welt“ (27. Mai) trafen sich im Jahr 2024 Mitglieder beider Institutionen einige Dutzend Mal beziehungsweise tauschten sich schriftlich oder telefonisch aus. Darunter waren auch zwei Telefonate zwischen Kanzler Olaf Scholz (SPD) und dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth (CDU) – am 23. Juli und am 10. Dezember. Laut Gericht habe es sich um „Gespräche ohne Verfahrensbezug“ gehandelt, nähere Auskünfte habe die Zeitung auch auf nochmalige Nachfrage hin nicht erhalten.
Emsiger Austausch
Zwischen dem damaligen Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und Harbarth, der von 2009 bis 2018 für die CDU im Bundestag saß, habe es den Recherchen zufolge vier Telefonate und ein persönliches Gespräch im Ministerium gegeben. Übergreifendes Thema sei die „Resilienz der Verfassungsgerichtsbarkeit“ gewesen. Es sei darum gegangen, wie man das Bundesverfassungsgericht „vor einer Beeinflussung durch Extremisten“ schützen könne, heißt es im Artikel. Buschmann habe entsprechende Ideen von CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen an das Gericht weitergeleitet.
Zu diesen Kontakten kamen 22 „dienstliche Anlässe“ wie Feierstunden oder Staatsbankette, bei denen mindestens ein Richter dem Kanzler, einem Minister oder einem Staatssekretär begegneten, sowie Treffen bei mehreren juristischen Veranstaltungen oder Symposien. Die Pressestellen des Gerichts und der Bundesministerien erklärten, es gebe „keine Verpflichtung zur systematischen Erfassung“ der telefonischen und schriftlichen Kontakte und eine derartige Erfassung werde auch nicht durchgeführt. Deshalb könne die tatsächliche Zahl der Kontakte zwischen Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht noch höher liegen.
Eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion (Drucksache 20/10914) hatte bereits Ende April 2024 ergeben: 44 Mal trafen sich Mitglieder der Ampel-Regierung – Kanzler, Minister und Staatssekretäre – seit ihrem Amtsantritt bis Anfang März 2024 mit Richtern des Bundesverfassungsgerichts sowie mit obersten Richtern etwa von Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht oder Bundesfinanzhof. Die meisten Treffen (40) fanden 2022 und 2023 statt. Hinzu kam ein intensiver telefonischer (51 Telefonate) und schriftlicher Austausch (17 Schreiben) zwischen höchsten Vertretern von Exekutive und Judikative. Zusammen mit dem Bundestag als Legislative sollen diese drei Gewalten „sich gegenseitig kontrollieren und staatliche Macht begrenzen“, heißt es auf der Seite des Bundestags.
Scharfe Kritik von Verfassungsrechtlern
In der Antwort auf die AfD-Anfrage hieß es seinerzeit: „Die Bundesregierung sieht in einem allgemeinen Austausch keine Gefahr für die Gewaltenteilung.“ Verfassungsrechtler hingegen kritisieren die zahlreichen Kontakte zwischen Exekutive und Judikative. So sieht der Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler von der Universität Oldenburg laut „Bild“ „eine Nähe und eine Vernetzung, die zwei wichtige Grundsätze des Rechtsstaats bedrohen: die Gewaltenteilung und die richterliche Unabhängigkeit.“ Laut Boehme-Neßler funktioniere der Rechtsstaat nur dann, wenn die Richter völlig unabhängig arbeiten könnten: „Regelmäßige Kontakte schaffen Nähe und gegenseitiges Verständnis. Das macht es für Richter schwierig, die Regierung dann unparteiisch und objektiv zu kontrollieren.“
Vorwürfe von Befangenheit während Corona-Jahren
Kritik an solchen Zusammenkünften der zwei Verfassungsorgane hatte es schon zuvor gegeben. So sorgte ein Abendessen der Verfassungsrichter im Kanzleramt, das im Juni 2021 stattgefunden hatte, für „Befangenheitsvorwürfe“. Die damalige Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte bei dem Treffen vor den Richtern des Ersten und Zweiten Senats den Vortrag „Entscheidung unter Unsicherheiten“ über den „Umgang mit der Corona-Pandemie“ gehalten. Lambrecht sagte damals, es sei „selbstverständlich“, dass bei dem Austausch „nicht über die konkret beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Fälle“ gesprochen werden könne.
Zu diesem Zeitpunkt liefen mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das Vierte Bevölkerungsschutzgesetz, die „Bundesnotbremse“, mit der die Bundesregierung weitreichende Maßnahmen während der Corona-Krise beschlossen hatte. Mit Beschluss vom 19. November 2021 hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in mehreren Hauptsacheverfahren Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, in denen es um die Überprüfung von schwerwiegenden Grundrechtseingriffen wie Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen ging.
Zu einem weiteren „Gedanken- und Erfahrungsaustausch“ wurden Bundeskanzler Scholz und Bundesminister am 8. November 2023 in Karlsruhe von Gerichtspräsident Harbarth, der Vizepräsidentin Doris König und weiteren Verfassungsrichtern empfangen. Gesprächsthemen seien laut Pressestelle des Gerichts die „Krise als Motor der Staatsmodernisierung“ und „Generationengerechtigkeit“ gewesen. Die Pressestelle erklärte: „Das Treffen der beiden Verfassungsorgane setzt eine seit vielen Jahren bestehende Tradition fort.“ Laut der „Verhaltensleitlinien“ des Bundesverfassungsgerichts müssten die Richterinnen und Richter sich innerhalb und außerhalb ihres Amtes so verhalten, dass „das Vertrauen in ihre Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Integrität nicht beeinträchtigt“ werde.
“Unabhängige” Justiz: Reger Austausch zwischen Verfassungsrichtern und Bundesregierung