Die ukrainischen Truppen haben am Wochenende ein russisches Atomkraftwerk mit Drohnen angegriffen. Glücklicherweise kam es nicht zu einem Strahlenleck. Doch beim nächsten Mal könnte eine Katastrophe wie bei Tschernobyl drohen.
Am Wochenende ist es im russischen Kursk zu einem Vorfall gekommen, der weit mehr ist als nur eine Randnotiz im Kriegsgeschehen. Ukrainische Drohnen griffen das dortige Atomkraftwerk an und lösten einen Brand an einem Transformator aus. In der Folge musste die Leistung eines Reaktors halbiert werden, bevor die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle bringen konnte. Auf den ersten Blick scheint alles glimpflich verlaufen zu sein – doch gerade darin liegt die eigentliche Gefahr. Denn sobald ein Atomkraftwerk ins Visier genommen wird, steht nicht nur die Energieversorgung auf dem Spiel, sondern die Gesundheit von zig Millionen Menschen.
Das Kraftwerk in Kursk liegt nur wenige Dutzend Kilometer von der Grenze entfernt. Doch was, wenn ein Drohnentreffer nicht nur einen Transformator, sondern die Kühlsysteme oder gar das Reaktorgebäude selbst beschädigt hätte? Schon ein kurzer Ausfall der Kühlung kann verheerende Folgen haben. Radioaktive Strahlung unterscheidet nicht zwischen Freund und Feind, sie macht keinen Halt an nationalen Grenzen. Die ukrainischen Militärs riskieren hier nicht nur das Leben von Gegnern, sondern auch das der eigenen Bevölkerung und auch jenes von Menschen in den verbündeten Ländern.
Die Internationale Atomenergiebehörde beeilte sich zu versichern, dass die Strahlenwerte im Normalbereich geblieben seien (siehe auch die europäische Strahlenwertekarte). Das mag beruhigend klingen, wirkt aber zugleich wie ein Eingeständnis der realen Gefahr. Jeder weitere Angriff erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann ein alarmierender Ausschlag bei den Messwerten kommt. Mit jedem Drohnenangriff auf ein Atomkraftwerk steigt die Chance, dass aus einem regionalen Krieg ein kontinentales Desaster wird.
Geschichtsvergessene Ukrainer?
Gerade die Ukraine müsste es besser wissen. Niemand sonst in Europa hat die Folgen einer atomaren Katastrophe so unmittelbar erfahren wie dieses Land. Die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 verstrahlte nicht nur ein riesiges Gebiet, sondern kontaminierte große Teile Europas. Hunderttausende wurden entwurzelt, die Strahlenwolke zog über Grenzen hinweg bis nach Skandinavien und Mitteleuropa. Bis heute werden erhöhte Krebsraten und Missbildungen mit diesem Ereignis in Verbindung gebracht. Dass ausgerechnet die Nachfolger jener Generation, die diesen Albtraum durchlitten, heute ein anderes Atomkraftwerk ins Visier nehmen, zeigt, wie weit die politische Führung Kiews bereit ist zu gehen.
Es wirkt, als würde man die Vergangenheit völlig ausblenden. Doch in diesem Krieg sind offenbar selbst diese roten Linien gefallen. Weder in Washington noch in Brüssel ist ein lauter Aufschrei zu hören. Man behandelt den Angriff, als sei er lediglich ein weiterer taktischer Schlag gegen die russische Energieinfrastruktur. Die moralische Doppelmoral ist kaum zu übersehen: Würde Moskau ganz offen ein ukrainisches Kernkraftwerk beschießen, gäbe es verurteilende Schlagzeilen. Doch wenn Kiew es tut, wird der Vorfall heruntergespielt.
Dabei ist die Gefahr für alle gleich. Ein schwerer Unfall im Kursker Atomkraftwerk würde nicht nur die russische Region allein treffen, sondern auch die Ukraine selbst und wohl auch weite Teile Europas. Windrichtungen lassen sich nicht von Regierungen kontrollieren, radioaktive Partikel nicht von Grenzen aufhalten. Sollen die Kinder in den europäischen Schulen wie schon Ende der 80er erneut jeden Tag Jodtabletten schlucken müssen, um das strahlenbedingte Krebsrisiko zu minimieren?
Ukrainische Drohnen auf Kursker Atomkraftwerk – ein Spiel mit der nuklearen Apokalypse