Gerry Nolan
Wenn eine Premierministerin ihren eigenen Mitarbeitern sagt, sie sollen sich ausruhen, weil das nächste Jahr deutlich schlimmer wird, ist das kein Galgenhumor. Es ist keine Erschöpfung, die spricht. Es ist ein Moment, in dem die Maske verrutscht – eine Bemerkung, die Führungskräfte nur dann machen, wenn die internen Prognosen nicht mehr mit dem öffentlichen Drehbuch übereinstimmen.
Giorgia Meloni wandte sich nicht an die Wähler. Sie wandte sich an den Staat selbst – an den bürokratischen Kern, der mit der Umsetzung von Entscheidungen betraut ist, deren Folgen nicht mehr zu verschleiern sind. In ihren Worten ging es nicht um eine banale Zunahme der Arbeitsbelastung. Es ging um Zwänge. Um Grenzen. Um ein Europa, das vom Krisenmanagement in einen kontrollierten Niedergang übergegangen ist und weiß, dass 2026 der Zeitpunkt ist, an dem die angehäuften Kosten endlich zusammenlaufen.
Was Meloni versehentlich preisgab, ist das, was Europas Eliten bereits verstehen: Das westliche Projekt in der Ukraine ist frontal mit der materiellen Realität kollidiert. Nicht mit russischer Propaganda. Nicht mit Desinformation. Nicht mit Populismus. Sondern mit Stahl, Munition, Energie, Arbeitskraft und Zeit. Und sobald sich die materielle Realität durchsetzt, beginnt die Legitimität zu versickern.
Der Krieg, den Europa nicht beliefern kann
Europa kann für den Krieg posieren. Es kann nicht für den Krieg produzieren.
Vier Jahre nach Beginn eines hochintensiven Abnutzungskrieges stehen die Vereinigten Staaten und Europa vor einer Wahrheit, die sie jahrzehntelang verlernt haben: Einen solchen Konflikt trägt man nicht mit theatralischen Reden, Sanktionen oder dem Abbruch der Diplomatie. Man trägt ihn mit Granaten, Raketen, ausgebildeten Besatzungen, Reparaturzyklen und Produktionsraten, die die Verluste übersteigen – Monat für Monat, ohne Unterbrechung.
Bis 2025 ist die Lücke nicht mehr theoretisch.
Russland produziert Artilleriemunition inzwischen in einem Umfang, der – wie westliche Offizielle selbst einräumen – die kombinierte Produktion der NATO übertrifft. Die russische Industrie ist auf eine nahezu durchgehende Produktion im Kriegsmodus umgestellt (ohne überhaupt vollständig mobilisiert zu sein), mit zentralisierter Beschaffung, vereinfachten Lieferketten und staatlich gelenktem Durchsatz. Schätzungen beziffern die jährliche russische Artillerieproduktion auf mehrere Millionen Schuss – Produktion, die bereits fließt, nicht erst versprochen ist.
Europa hingegen verbringt das Jahr 2025 damit, Ziele zu feiern, die es materiell nie erreichen kann. Das Flaggschiff-Versprechen der Europäischen Union bleibt bei zwei Millionen Granaten pro Jahr – ein Ziel, das von neuen Anlagen, neuen Verträgen und neuer Arbeitskraft abhängt, die innerhalb des entscheidenden Zeitfensters dieses Krieges, wenn überhaupt, nicht vollständig realisiert werden. Selbst wenn dieses erträumte Ziel erreicht würde, läge es nicht auf Augenhöhe mit der russischen Produktion. Die Vereinigten Staaten prognostizieren nach einer Notausweitung rund eine Million Granaten jährlich – vorausgesetzt, und das ist ein großes „Wenn“, der volle Hochlauf gelingt. Selbst zusammen auf dem Papier hat die westliche Produktion Mühe, mit der russischen Outputmenge mitzuhalten, die bereits geliefert wird. Ein Papiertiger.
Das ist keine Lücke. Es ist ein massives Tempomissverhältnis. Russland produziert jetzt in großem Maßstab. Europa träumt davon, später wieder in großem Maßstab produzieren zu können.
Und Zeit ist die eine Variable, die sich nicht sanktionieren lässt.
Auch können die Vereinigten Staaten Europas ausgehöhlte Kapazitäten nicht einfach kompensieren. Washington steht vor eigenen industriellen Engpässen. Die Produktion von Patriot-Luftabwehrabfangraketen liegt bei niedrigen dreistelligen Stückzahlen pro Jahr, während die Nachfrage nun gleichzeitig die Ukraine, Israel, Taiwan und die Auffüllung der US-Bestände umfasst – ein Missverhältnis, das ranghohe Pentagon-Beamte selbst als nicht schnell, wenn überhaupt, lösbar eingeräumt haben. Der US-Schiffbau erzählt dieselbe Geschichte: U-Boot- und Überwasserkampfschiffprogramme liegen Jahre hinter dem Zeitplan zurück, gebremst durch Arbeitskräftemangel, alternde Werften und Kostenüberschreitungen, die eine nennenswerte Expansion in die 2030er Jahre verschieben. Die Annahme, Amerika könne Europa industriell absichern, entspricht nicht mehr der Realität. Das ist kein ausschließlich europäisches Problem; es ist ein westliches.
Kriegsbereitschaft ohne Fabriken
Europäische Führungskräfte sprechen von „Kriegsbereitschaft“, als wäre sie eine politische Haltung. In Wirklichkeit ist sie ein industrieller Zustand – und Europa erfüllt ihn nicht.
Neue Artillerieproduktionslinien benötigen Jahre, um einen stabilen Durchsatz zu erreichen. Die Herstellung von Luftabwehrabfangraketen läuft in langen Zyklen, gemessen in Chargen, nicht in Spitzen. Selbst grundlegende Inputs wie Sprengstoffe bleiben Engpässe; Anlagen, die vor Jahrzehnten geschlossen wurden, werden erst jetzt wieder eröffnet, einige sollen ihre Kapazität erst Ende der 2020er Jahre erreichen.
Dieses Datum allein ist ein Eingeständnis.
Russland hingegen operiert bereits im Kriegstempo. Sein Verteidigungssektor liefert jährlich Tausende gepanzerte Fahrzeuge, Hunderte Flugzeuge und Hubschrauber sowie enorme Mengen an Drohnen.
Europas Problem ist nicht konzeptionell, sondern institutionell. Deutschlands viel beschworene Zeitenwende hat dies brutal offengelegt. Zehnermilliarden wurden bewilligt, doch Beschaffungsengpässe, fragmentierte Vergaben und eine verkümmerte Zulieferbasis sorgten dafür, dass Lieferungen der Rhetorik um Jahre hinterherhinkten. Frankreich, oft als Europas leistungsfähigster Rüstungsproduzent genannt, kann anspruchsvollere Systeme herstellen – aber nur in Boutique-Mengen, gemessen in Dutzenden, wo ein Abnutzungskrieg Tausende verlangt. Selbst die EU-eigenen Initiativen zur Beschleunigung der Munitionsproduktion erweiterten Kapazitäten auf dem Papier, während die Front Granaten in wenigen Wochen verbrauchte. Das sind keine ideologischen Versäumnisse. Es sind administrative und industrielle – und sie verstärken sich unter Druck.
Der Unterschied ist strukturell. Die westliche Industrie wurde auf Aktionärseffizienz und Friedenszeitenmargen optimiert. Die russische wurde auf Durchhaltefähigkeit unter Druck reorganisiert. Die NATO kündigt Pakete an. Russland zählt Lieferungen.
Die 210-Milliarden-Euro-Fantasie
Diese industrielle Realität erklärt, warum die Saga um eingefrorene Vermögenswerte so wichtig war – und warum sie scheiterte.
Europas Führung verfolgte die Beschlagnahme russischer Staatsvermögen nicht aus juristischer Kreativität oder moralischer Klarheit. Sie tat es, weil sie Zeit brauchte. Zeit, um nicht eingestehen zu müssen, dass der Krieg unter westlichen industriellen Bedingungen nicht durchzuhalten ist. Zeit, um Finanzierung an die Stelle von Produktion zu setzen.
Als der Versuch, rund 210 Milliarden Euro an russischen Vermögenswerten zu konfiszieren, am 20. Dezember scheiterte – blockiert durch rechtliche Risiken, Marktfolgen und Widerstand unter Führung Belgiens, mit Italien, Malta, der Slowakei und Ungarn gegen eine vollständige Beschlagnahme –, begnügte sich Europa mit einem abgeschwächten Ersatz: einem 90-Milliarden-Euro-Kredit an die Ukraine für 2026–27, bedient durch jährlich 3 Milliarden Euro an Zinsen, der Europas Zukunft weiter verpfändet. Das war keine Strategie. Das war Triage – und es vertiefte die Spaltung einer ohnehin geschwächten Union.
Eine vollständige Konfiszierung hätte Europas Glaubwürdigkeit als Finanzverwahrer detoniert. Die dauerhafte Immobilisierung vermeidet die Explosion – erzeugt aber ein langsames Ausbluten. Die Vermögenswerte bleiben auf unbestimmte Zeit eingefroren, ein permanenter Akt wirtschaftlicher Kriegsführung, der der Welt signalisiert, dass in Europa gehaltene Reserven konditional und das Risiko nicht wert sind. Europa entschied sich für reputative Erosion statt juristischer Zerreißprobe. Diese Entscheidung offenbart Angst, nicht Stärke.
Die Ukraine als Bilanzkrieg
Die tiefere Wahrheit ist, dass die Ukraine nicht mehr primär ein Schlachtfeldproblem ist. Sie ist ein Solvenzproblem. Washington versteht das. Die Vereinigten Staaten können Peinlichkeiten verkraften. Sie können offene, zeitlich unbegrenzte Verpflichtungen nicht unbegrenzt tragen. Ein Ausstieg wird gesucht – leise, ungleichmäßig und mit rhetorischer Tarnung.
Europa kann nicht zugeben, dass es einen braucht. Europa rahmte den Krieg als existenziell, zivilisatorisch, moralisch. Es erklärte Kompromiss zur Beschwichtigung und Verhandlung zur Kapitulation. Damit löschte es seine eigenen Ausstiegsmöglichkeiten.
Nun schlagen die Kosten dort auf, wo keine Erzählung sie ablenken kann: auf europäischen Haushalten, europäischen Energierechnungen, europäischer Industrie und europäischer politischer Kohäsion. Der 90-Milliarden-Euro-Kredit ist keine Solidarität. Er ist die Verbriefung des Niedergangs – das Vorrollen von Verpflichtungen, während die produktive Basis, die sie rechtfertigen müsste, weiter erodiert.
Meloni weiß das. Deshalb war ihr Ton nicht trotzig, sondern müde.
Zensur als Panikmanagement
Während sich materielle Grenzen verhärten, zieht sich die narrative Kontrolle enger. Die aggressive Durchsetzung des EU-Digital-Services-Acts geht nicht um Sicherheit. Es geht um Eindämmung in ihrer orwellschsten Form – den Aufbau eines Informationsperimeters um einen Elitenkonsens, der einer offenen Abrechnung nicht mehr standhält. Wenn Bürger beginnen zu fragen – erst ruhig, dann nicht mehr ruhig –, beharrlich: Wofür war das alles?, kollabiert die Illusion von Legitimität schnell.
Deshalb reicht der regulatorische Druck nun über Europas Grenzen hinaus und provoziert transatlantische Reibungen über Zuständigkeit und Meinungsfreiheit. Selbstsichere Systeme fürchten das Gespräch nicht. Fragile schon. Zensur ist hier keine Ideologie. Sie ist Versicherung.
Deindustrialisierung: Der unausgesprochene Verrat
Europa hat nicht nur Russland sanktioniert. Es hat sein eigenes Industriemodell sanktioniert.
Bis 2025 zahlt die europäische Industrie weiterhin Energiekosten, die weit über denen von Wettbewerbern in den Vereinigten Staaten oder Russland liegen. Deutschland, der Motor, verzeichnet eine anhaltende Schrumpfung energieintensiver Fertigung. Chemie-, Stahl-, Düngemittel- und Glasproduktion wurden entweder eingestellt oder verlagert. Kleine und mittlere Unternehmen in ganz Italien und Mitteleuropa scheitern leise, ohne Schlagzeilen.
Deshalb kann Europa die Munitionsproduktion nicht so hochfahren, wie es müsste. Deshalb bleibt Wiederbewaffnung ein Versprechen statt ein Zustand. Günstige Energie war kein Luxus. Sie war das Fundament. Entfernt man sie durch Selbstsabotage (Nord Stream u. a.), höhlt man die Struktur aus.
China, das all dies beobachtet, hält die andere Hälfte von Europas Albtraum in der Hand. Es verfügt über die tiefste industrielle Basis der Erde, ohne in den Kriegsmodus gewechselt zu sein. Russland braucht nicht Chinas Breite, nur seine strategische Tiefe im Rücken als Reserve. Europa hat weder das eine noch das andere.
Wovor Meloni tatsächlich Angst hat
Nicht vor harter Arbeit. Nicht vor vollen Terminkalendern. Sie fürchtet ein Jahr 2026, in dem Europas Eliten die Kontrolle über drei Dinge zugleich verlieren.
Geld – wenn die Finanzierung der Ukraine zu einem EU-Bilanzproblem wird und die Fantasie ersetzt, „Russland werde zahlen“.
Narrativ – wenn die Zensur sich verschärft und dennoch die Frage nicht unterdrücken kann, die über den Kontinent hallt: Wofür war das alles?
Bündnisdisziplin – wenn Washington den Ausstieg manövriert, während Europa Kosten, Risiko und Demütigung trägt.
Das ist die Panik. Nicht die unmittelbare Niederlage im Krieg, sondern der langsame Verlust der Legitimität, während die Realität durch Energierechnungen, geschlossene Fabriken, leere Arsenale und verpfändete Zukünfte durchsickert.
Menschheit am Abgrund
Dies ist nicht nur Europas Krise. Sie ist zivilisatorisch. Ein System, das nicht produzieren kann, nicht nachliefern kann, nicht die Wahrheit sagen kann und nicht zurückweichen kann, ohne seine Glaubwürdigkeit zum Einsturz zu bringen, hat seine Grenzen erreicht. Wenn Führungskräfte beginnen, ihre eigenen Institutionen auf schlechtere Jahre vorzubereiten, prognostizieren sie keine Unannehmlichkeit. Sie gestehen strukturellen Verfall ein.
Melonis Bemerkung war wichtig, weil sie die Inszenierung durchbrach. Imperien verkünden ihren Triumph laut. Systeme im Niedergang senken die Erwartungen leise – oder, wie im Fall Meloni, ungewöhnlich offen.
Europas Führung senkt jetzt die Erwartungen, weil sie weiß, was in den Lagerhallen liegt, was die Fabriken noch nicht liefern können, wie die Schuldenkurven aussehen – und was die Öffentlichkeit bereits zu begreifen beginnt.
Für die meisten Europäer wird diese Abrechnung nicht als abstrakte Debatte über Strategie oder Lieferketten eintreffen. Sie wird als viel einfachere Erkenntnis ankommen: Das war nie ein Krieg, dem sie zugestimmt haben. Er wurde nicht geführt, um ihre Häuser, ihren Wohlstand oder ihre Zukunft zu verteidigen. Er wurde aus imperialer Gier geführt – und bezahlt mit ihrem Lebensstandard, ihrer Industrie und der Zukunft ihrer Kinder.
Man sagte ihnen, er sei existenziell. Man sagte ihnen, es gebe keine Alternative. Man sagte ihnen, Opfer seien Tugend.
Doch was Europäer wollen, ist keine endlose Mobilisierung oder permanente Austerität. Sie wollen Frieden. Sie wollen Stabilität. Sie wollen die stille Würde des Wohlstands – bezahlbare Energie, funktionierende Industrie und eine Zukunft, die nicht an Konflikte verpfändet ist, denen sie nie zugestimmt haben.
Und wenn sich diese Wahrheit setzt, wenn die Angst nachlässt und der Bann bricht, wird die Frage, die Europäer stellen, nicht technisch, nicht ideologisch, nicht rhetorisch sein.
Sie wird menschlich sein. Warum wurden wir gezwungen, alles für einen Krieg zu opfern, dem wir nie zugestimmt haben und bei dem man uns sagte, es gebe keinen Frieden, der es wert sei, verfolgt zu werden? Und das ist es, was Meloni nachts wach hält.
