28. Dezember 2025

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Europäisches Parlament steuert auf verpflichtende Altersverifizierung zu

 

Privacy-Experte Michel Portier: erneut ein Schritt in Richtung totalitärer Kontrolle

Das Europäische Parlament hat am 27. November seine Unterstützung für eine verpflichtende Altersverifizierung ausgesprochen. Kinder zwischen 13 und 16 Jahren sollen künftig nicht mehr in sozialen Medien unterwegs sein dürfen, ohne Zustimmung ihrer Eltern. Für Jugendliche unter 13 möchte das Parlament sogar ein vollständiges Verbot. Wie schon das Chat-Control-Gesetz – durch das all unsere Nachrichten auf Material des sexuellen Missbrauchs von Kindern gescannt werden sollen – soll auch diese Maßnahme das Internet für Jugendliche sicherer machen, aber laut Kritikern öffnet die Gesetzgebung die Tür zur totalen Kontrolle. „Ich sehe alle Nachteile von Social Media, aber wie meine Kinder damit umgehen, ist meine Sache. Dieses Mandat darf niemals beim Staat liegen“, sagt der Informatiker Michel Portier.

Die Niederlande stimmten letzten Monat gegen das Chat-Control-Gesetz, das es ermöglicht, all unsere Nachrichten auf kinderpornographisches Material (CSAM) zu scannen. Trotzdem nahm der Europäische Rat das Gesetz am 26. November mit Mehrheit an. Einen Tag später folgte eine nicht bindende Resolution des Europäischen Parlaments für eine verpflichtende Altersverifizierung für soziale Medien, Videoplattformen und KI-Chatbots. Das Parlament unterstützt ein Verbot dieser Plattformen für Kinder unter 13 Jahren. Kinder unter 16 Jahren sollen diese Dienste nur noch mit Zustimmung ihrer Eltern nutzen dürfen.

Wie genau das Chat-Control-Gesetz und die Altersverifizierung zueinander stehen, „ist die Frage des Augenblicks“, sagt Michel Portier, Informatiker und Dozent für Informatik an der Hogeschool Saxion in Deventer. Portier – der sich in seiner Freizeit schon lange mit digitaler Gesetzgebung beschäftigt – durchforstete das ganze Wochenende das Internet. Seine Fragen: Was bedeutet die Altersverifizierung genau? Fällt sie unter das Chat-Control-Gesetz? Wie behauptet die EU, dies einführen zu können, ohne unsere Privatsphäre zu verletzen? Wie soll das technisch aussehen? Und wann würde dieses Gesetz in Kraft treten? Auf all diese Fragen habe er die endgültigen Antworten noch immer nicht gefunden, sagt er. Was er allerdings schon wisse: „Altersverifizierung ist um ein Vielfaches komplizierter als Chat Control, und das ist an sich schon eine rote Flagge“ und: „Diese ‘losen’ digitalen Gesetze dienen einander alle gegenseitig.“

In Letzterem liege eine große Gefahr, sagt er. „Es werden in rasendem Tempo Gesetzesvorschläge erarbeitet. Einer ist noch vager als der andere. Wenn ein bestimmter Aspekt darin nicht klar definiert ist, aber Türen offenlässt für das, was möglich wäre, und wenn es technisch – selbst für mich – mathematisch so kompliziert wird: Wie können wir das dann noch kontrollierbar machen?“

Es beginnt mit dem Chat-Control-Gesetz, sagt Portier. Neben dem Scannen von Nachrichten, bevor sie versendet werden – wodurch die Verschlüsselung von Nachrichten (Ende-zu-Ende-Verschlüsselung) umgangen wird – ist in dem Gesetz auch eine verpflichtende Altersverifizierung enthalten. Chatdienste und Appstores müssen sie einführen, damit Minderjährige keine „Risiko-Apps“ für Grooming (Vertrauensaufbau mit sexuellem Ziel) mehr herunterladen können. „Im Chat-Control-Gesetz steht nicht, was für welche Altersstufe verboten werden muss. Es heißt also: Es müssen Altersverifizierungen durchgeführt werden, aber sie werden nicht spezifiziert. Das scheint jetzt ein kleines bisschen klarer zu werden, seit das Europäische Parlament benannt hat, dass Kinder unter 13 überhaupt keinen Zugang mehr zu Social-Media-Apps bekommen sollen und unter 16 nur mit Erlaubnis der Eltern. Seltsam finde ich nur, dass etwas aus dem Chat-Control-Gesetz durch ein anderes Gesetz spezifiziert werden soll.“

In Australien ist es ab dem 10. Dezember schon so weit. Jugendliche unter 16 dürfen dort grundsätzlich keine sozialen Medien mehr nutzen, und somit werden mehr als eine Million Accounts ausgesetzt. Eine Kampagnengruppe zog daraufhin Ende letzten Monats vor das höchste Gericht, weil „das Gesetz Jugendliche davon ausschließt, sich online zu äußern“, so Macy Neyland (15), eine der Klägerinnen. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters sagte sie: „Es ist wie aus Orwells Buch 1984, und das macht mir Angst.“ Auch in England verlangen viele Websites bereits eine Altersverifizierung – eine Folge des britischen Online Safety Act (OSA). Weil Plattformen mit dem OSA verpflichtet sind, Kinder vor „schädlichen Inhalten“ zu schützen, gehen Unternehmen aus Angst vor horrenden Geldstrafen lieber auf Nummer sicher, indem sie bei dieser Entwicklung mitmachen. „Der Kauf von VPNs steigt dort massiv“, so Portier über die Apps, mit denen man über einen Server in einem anderen Land die lokale Gesetzgebung umgehen kann. „Viele Menschen, die online weniger versiert sind, werden für bestimmte Inhalte ihr Alter angeben müssen. Und bei einer Pflicht gibst du mit deinem Alter auch deine Identität preis. Anonymität im Internet ist damit am Ende.“

Die Altersverifizierung erfolgt in England über externe Unternehmen, durch das Hochladen einer Kreditkarte, eines Ausweises oder eines Fotos, auf dem KI eine Altersprüfung vornimmt. „Das hat bereits zu gigantischen Datenlecks geführt“, sagt Portier. Diese Unternehmen hätten sich auch als relativ leicht hackbar erwiesen, sodass eine unklare Menge an Daten gesammelt werden konnte. Die EU hat nach eigenen Angaben eine datenschutzfreundliche Lösung dafür: eine eigene Altersverifizierungs-App, mit der man seinen Reisepass oder Ausweis hochlädt und per Gesichtsscan verifiziert. Anschließend erhält man dreißig age attestations – „Tickets“, die maximal 90 Tage gültig sind und mit denen man die Altersmauer von Websites wie Netflix oder Facebook passiert. Portier: „Es stimmt, dass diese sicherer ist: Theoretisch ist die Applikation so gestaltet, dass die App selbst und die Website, die du besuchst, nur wissen, ob du ein bestimmtes Alter hast und sonst nichts: keine Identität, kein Standort, nichts. Dieses Prinzip heißt ZKP: Zero Knowledge Proof. Was die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für Chatapps so wichtig macht – das Briefgeheimnis – das ist bei Altersverifizierungsapps der ZKP: deine Anonymität. Meiner Ansicht nach müsste dieser Begriff in dieser Diskussion viel bekannter werden.“

Das Problem ist, dass diese Altersverifizierungs-App als „Übergangsphase“ gedacht ist, so Portier. Langfristig soll sie durch die Digitale ID ersetzt werden. „Und dabei ist ZKP – das die Anonymität also gewährleisten soll – nicht verpflichtend. Das ist problematisch, weil dieser digitale Pass sehr viele Informationen über dich hat, wie zum Beispiel dein Alter. Aber auch Verhalten, Abschlüsse, Führerschein – und so weiter – können daran gekoppelt werden.“ Die Ergänzung von ZKP zur Digitalen ID müsste aus Portiers Sicht daher eine absolute Voraussetzung sein, „aber dann taucht das nächste Problem auf: In der Praxis ist das kaum anzuwenden, weil es Teil einer viel größeren Infrastruktur ist. Stell dir vor, du gibst auf Facebook – verpflichtend – dein Alter an. Facebook kennt dann also dein Alter. Aber es muss auch prüfen, ob deine Digitale ID noch gültig ist, und wird dies also kurz bei der EU checken. Es stimmt zwar, dass Facebook nur dein Alter kennt, aber die EU weiß dadurch dennoch, dass du dort eingeloggt bist. Auf diese Weise weiß die EU am Ende alles über dich… Auch das ist theoretisch lösbar, aber es ist alles so fein und technisch so kompliziert, dass ich – und viele andere Experten – denke, dass es nicht gut umgesetzt werden kann.“

Portier, selbst Vater von drei Kindern, nennt es bedenklich, dass – wie beim Chat-Control-Gesetz – die Sicherheit von Kindern instrumentalisiert wird. „Ich bin auch ein besorgter Elternteil. Ich sehe alle Nachteile von Smartphones und Social Media. Aber wie meine Kinder damit umgehen, ist meine Sache. Dieses Mandat darf niemals beim Staat landen – damit öffnen wir die Tür zu einem totalitären Staat. Heute ist es eine Altersverifizierung, aber was, wenn sie morgen für etwas anderes genutzt wird? In diesem System, mit einer Digitalen ID als Träger, gibt es jede Möglichkeit, den Zugang nicht nur an dein Alter, sondern auch an dein Verhalten zu knüpfen (siehe Kasten – Red.).“

Laut Portier wird die Altersverifizierung einen gegenteiligen Effekt haben – was verboten ist, wird nur umso attraktiver, besonders für Jugendliche. „Und die Auswege gibt es.“ Bis es so weit ist, können wir schon viel tun, indem wir sowohl die Altersverifizierungs- als auch die Digital-ID-App nicht herunterladen, sobald sie verfügbar werden. „Wenn wir das massenhaft verweigern, ist es ohnehin vorbei.“

Portier befürchtet jedoch, dass letztlich die Bequemlichkeit den Ausschlag geben wird. „Wenn du diese Geschichte in deinem Umfeld erzählst, will das niemand. Viele Experten weisen auch in den Mainstream-Medien auf die Gefahren hin. Aber was bleibt davon übrig, wenn es dann doch eingeführt wird, du siehst, wie Menschen in deinem Umfeld es nutzen, und du dir Mühe machen musst… Was ist dir deine Privatsphäre dann wirklich wert? Die meisten wollen darüber nicht einmal nachdenken. Kinder von Social Media fernzuhalten ist dann vielleicht nicht mehr möglich, aber im gleichen Atemzug sehe ich die Digitale ID einfach ‘ganz normal’ kommen.“

 

Europäisches Parlament steuert auf verpflichtende Altersverifizierung zu