In Brüssel wurde am gestrigen Morgen eine Debatte geführt, die den digitalen Kurs Europas grundlegend in Frage stellt. Während viele EU-Initiativen als technokratische Fortschritte verkauft werden, wählten die Teilnehmer der Veranstaltung im Europäischen Parlament klare Worte: Der Digital Services Act (DSA) sei kein Reformwerk, sondern Europas bislang raffiniertestes Mittel zur Unterdrückung unliebsamer Meinungen.
Organisiert wurde die Konferenz mit dem Titel „The Digital Services Act and Threats to Freedom of Expression“ von den EU-Abgeordneten Stephen Bartulica und Virginie Joron, unterstützt von ADF International. In ihrer Eröffnung erklärte Joron, dass sich das als Schutzgesetz gegen Desinformation verkaufte Vorhaben längst in ein Überwachungsgesetz verwandelt habe. Plattformen wie Facebook, Telegram oder X stünden nun unter dem Druck, abweichende Ansichten zu filtern.
Diese Kritik wird zunehmend auch außerhalb Europas geteilt. Selbst das US-Außenministerium wies auf „abschreckende Auswirkungen“ des DSA auf die Meinungsfreiheit hin.
Im Zentrum der Debatte stand die Frage, wer überhaupt definiert, was „Desinformation“ oder „Hassrede“ ist – und mit welcher Legitimation Regierungen Inhalte löschen lassen dürfen, weil sie „jemandem irgendwo“ als problematisch erscheinen.
Paul Coleman, Direktor von ADF International, äußerte sich entschieden: „Die Redefreiheit in Europa ist wieder bedroht – in einem Ausmaß, wie wir es seit den autoritären Regimen des 20. Jahrhunderts nicht mehr erlebt haben.“ Für ihn ist der DSA kein technisches Detail, sondern ein systemischer Angriff auf die Meinungsfreiheit – und ein Bruch mit den Menschenrechtsverpflichtungen, denen Europa sich eigentlich verpflichtet hat.
Der kroatische Abgeordnete Stephen Bartulica warnte insbesondere vor der schwammigen Kategorie „Hassrede“. Was heute darunter fällt, könne morgen auch die bloße Wiedergabe religiöser Texte betreffen – je nachdem, welche Ideologie gerade den Ton angibt.
Ein Beispiel: Der Fall der finnischen Abgeordneten Päivi Räsänen, die wegen eines Bibelzitats wegen Hassrede angeklagt wurde – obwohl sie in zwei Instanzen freigesprochen wurde, wird ihr Fall nun vor dem Obersten Gericht Finnlands neu verhandelt. Für die Teilnehmer war ihr Fall ein warnendes Beispiel dafür, wie leicht sich Zensur auf legale, politische oder religiöse Meinungsäußerung ausweiten lässt.
Ein bislang wenig diskutierter Aspekt des DSA: Wird ein Inhalt in einem Mitgliedstaat als illegal eingestuft, kann dies EU-weit gelten. Ein Urteil in Helsinki könnte so die Moderation von Inhalten in Lissabon oder Warschau beeinflussen. Das Internet wird grenzüberschreitend – und die Zensur gleich mit.
Publizist Rod Dreher formulierte es so: JD Vance hasse Europa nicht, sondern jene Eliten, die es in eine digitale Version Ost-Berlins verwandeln. Die heutige Zensur komme im weichen Ton, in der Sprache des Schutzes – aber ihr Wesen sei unverkennbar: Kontrolle. Eliten wollten nicht Diskussionen führen, sondern Dissens kriminalisieren.
Dreher zitierte sowjetische Dissidenten, die unter repressiven Systemen das Sprechen zur Mutprobe machten. Seine Warnung: Heute werde die Meinungsfreiheit erneut als Privileg, nicht als Recht behandelt. Sein Appell: „Verweigert euch jeder Veranstaltung, in der man nicht die Wahrheit sagen darf. Bereitet euch darauf vor, für die Wahrheit zu leiden.“
Coleman lieferte den juristischen Rahmen. Die Meinungsfreiheit ist durch Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta, Artikel 10 der EMRK und Artikel 19 des Zivilpakts geschützt. Jede Einschränkung müsse nötig, verhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt sein. Der DSA, so Coleman, erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Er rief dazu auf, eine Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof anzustrengen – um das Gesetz ganz oder teilweise zu kippen.
Der nächste Prüfpunkt: Die verpflichtende Überprüfung des DSA im November. Coleman forderte Abgeordnete auf, konkrete Fragen an die EU-Kommission zu stellen, insbesondere an die zuständige Kommissarin Henna Virkkunen. „Wenn sie so sehr für Meinungsfreiheit ist, wie sie behauptet – warum sollte sie sich diesen Fragen verweigern?“
Er rief zur Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen, Digitalrechtsgruppen und Technologiefirmen auf. Diese wüssten, was auf dem Spiel stehe – oft besser als die Bürokraten, die den Gesetzestext formulierten.
Seine wichtigste Botschaft galt jedoch den Abgeordneten selbst: „Als gewählte Vertreter Ihres Volkes sind Sie in einer einzigartigen Position, um auf die Gefahren für die Meinungsfreiheit aufmerksam zu machen, die vom DSA ausgehen. Die Rechte jedes einzelnen Europäers sind bedroht.“
Diese Bedrohung ist bereits Realität, sie durchdringt Plattformen und Gerichtssäle. Ohne massiven öffentlichen Widerstand werde sie zur Normalität. „Je mehr Menschen davon erfahren und sich äußern, desto größer wird der Druck auf die Kommission. Und desto wahrscheinlicher ist es, dass dieses Gesetz gestoppt wird.“
Die Konferenz wird den Kurs der Kommission nicht sofort ändern. Aber sie tat etwas Entscheidendes: Sie zwang die Diskussion aus den Hinterzimmern in die Öffentlichkeit – in klarer Sprache, ohne Euphemismen. Über Parteigrenzen hinweg sprachen Vertreter aus ganz Europa nicht mehr von Vorsicht, sondern von Widerstand.
Bartulica, Dreher und Coleman machten eines deutlich: Zwischen digitaler Zensur und freier Gesellschaft steht nur noch der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen.
Einblick in den Brüsseler Showdown über Europas Sprachpolizei