4. Oktober 2025

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Die Rückkehr der geopolitischen Gravitation

 

Arnaud Bertrand

Vier außergewöhnliche Ereignisse ereigneten sich letzte Woche innerhalb von nur 72 Stunden – eine Woche, die als eine der folgenreichsten beim Übergang von der Pax Americana (einer Epoche, die zugegeben weitaus mehr „Americana“ als „Pax“ war) hin zu einer multipolaren Welt in Erinnerung bleiben könnte.

Diese vier Ereignisse sind jedes für sich schon bedeutend, zusammengenommen – und unter Berücksichtigung, dass sie in extrem kurzer Zeit vom 17. bis 19. September geschahen – deuten sie auf eine tiefgreifende Neuausrichtung der globalen Machtverhältnisse hin.

Welche sind das? In chronologischer Reihenfolge:

  • 17. September: Saudi-Arabien und Pakistan gaben bekannt, ein NATO-ähnliches formales Sicherheitsbündnis zu bilden – eine fundamentale Verschiebung des strategischen Gleichgewichts im Nahen Osten, insbesondere da Pakistan ein Nuklearstaat ist und 81 % seiner Waffenimporte aus China stammen.
  • 18. September: Die Trump-Regierung machte öffentlich, dass sie sechs Monate lang – erfolglos – mit den Taliban über die Rückgewinnung des Luftwaffenstützpunkts Bagram verhandelt hatte.
  • 19. September: Xi und Trump führten wohl das positivste Gespräch zwischen Präsidenten beider Länder seit vielen Jahren, das beide Seiten im Nachhinein fast feierlich charakterisierten.
  • 19. September: Die USA kündigten an, den Sanktionsverzicht für Indiens Hafen Chabahar im Iran aufzuheben – Indiens Kronjuwel für den Handel mit Zentralasien. Ein weiterer feindlicher Schritt Washingtons gegen Indien, nachdem Trump das Land erst kürzlich mit 50% Zöllen belegt hatte.

Man könnte fast ein fünftes Ereignis hinzufügen: Am 21. September, zwei Tage nach Trumps Telefonat mit Xi, reiste eine hochrangige parteiübergreifende Delegation des US-Kongresses – eine Institution, die sich bisher stets ausgesprochen china-feindlich zeigte – nach Peking. Es war der erste Besuch des Repräsentantenhauses seit über sechs Jahren. Ziel: „das Eis brechen“ nach dem Trump-Xi-Telefonat, verbunden mit der Absicht, künftig regelmäßige Besuche zur Stärkung der Beziehungen durchzuführen. Für sich genommen nicht weltbewegend, doch kombiniert mit den übrigen Ereignissen deutet es klar auf eine Neuausrichtung hin.

Wie hängen diese Ereignisse zusammen?

Meine These: Sie sind entweder direkt miteinander verbunden (Trumps Enthüllung zu Bagram fällt kaum zufällig zeitgleich mit der saudisch-pakistanischen Allianz und seinem Gespräch mit Xi), oder sie spiegeln allesamt denselben grundlegenden Wandel wider.

Vor allem zeigen sie, dass sich die „Karte“ wieder gegen die „Narrative“ durchsetzt. Jahrzehntelang lebten wir in einer Welt, in der Geschichten wichtiger waren als Geografie – wo der Status als „Demokratie“, „Verbündeter“ oder Mitglied der „regelbasierten Ordnung“ den Platz in der Welt bestimmte, mehr als Lage, Ressourcen oder Nachbarschaft.

Diese vier Ereignisse deuten auf eine Rückkehr der physikalischen Kräfte hin, die Wiederkehr des Gesetzes der geopolitischen Gravitation. Jahrzehntelang verzerrte amerikanische Macht diese Gravitation, wie ein elektromagnetisches Feld, das Eisenspäne dazu zwingt, den Magneten nebenan zu ignorieren. Doch solche Felder benötigen permanente Energie, und wenn der Generator schwächelt, richten sich die Teilchen wieder entlang der alten, einfacheren Kräfte aus.

Darum nenne ich diesen Artikel „Die Rückkehr der geopolitischen Gravitation“.

1. Die Allianz Saudi-Arabien – Pakistan

Der Abschluss eines NATO-ähnlichen Bündnisses zwischen Saudi-Arabien und Pakistan ist ein tektonisches Ereignis. Saudi-Arabien, jahrzehntelang das Musterbeispiel eines US-Klientenstaates, signalisiert damit, dass die Ära exklusiver Abhängigkeit von amerikanischem Schutz vorbei ist.

Die Folgen sind weitreichend: Implizit verbindet dieses Bündnis die Sicherheit Saudi-Arabiens mit Pakistans Atomwaffen und mit chinesischen Waffen (81 % der pakistanischen Importe). Zum ersten Mal seit Roosevelts Treffen mit Ibn Saud 1945 ist das Königreich in ein formales Militärbündnis mit einer nichtwestlichen Atommacht eingetreten.

Das setzt einen gefährlichen Präzedenzfall für alle US-Sicherheitsgarantien weltweit. Wenn selbst Saudi-Arabien dem Schutz Washingtons nicht mehr vertraut – warum sollten andere das tun?

Besonders bemerkenswert: Die Reaktion der USA war extrem verhalten – keine Sanktionen, keine Kongressanhörungen, nicht einmal offizielle Stellungnahmen. Angesichts der Bedeutung dieses Schrittes wirkt das nahezu surreal.

Tatsächlich hatte es im Sommer 2025 auffallend viele Treffen USA–Pakistan gegeben: Trump empfing Armeechef Asim Munir im Weißen Haus – eine Premiere. Marco Rubio traf Pakistans Vizepremier Ishaq Dar in Washington. Und zeitgleich mit der Niederschrift dieses Artikels trifft Trump Premier Sharif.

Das deutet stark darauf hin: Die USA waren nicht überrascht, das war vorab verhandelt. Die Frage ist nur: War es Teil einer bewussten Rückzugsstrategie – Fokus auf „Homeland Defense“ statt Weltpolizist – oder schlicht Kapitulation aus mangelndem Einfluss?

Wie auch immer: Das Ergebnis ist, dass Washington nicht mehr alleiniger Sicherheitsgarant ist. Dies könnte der Auftakt zu einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur sein, in der regionale Atommächte diese Rolle übernehmen.

Nebenwirkungen: Entstehung eines nuklear geschützten Energie-Korridors vom Golf über Pakistan nach China. Saudi-Öl kann über den China-Pakistan Economic Corridor nach Osten fließen, während chinesische Exporte westwärts in den Nahen Osten strömen – abgesichert durch Pakistans Nuklearschirm. Das schwächt die Dollar-Dominanz, da Handelsflüsse nicht länger US-Sicherheitsgarantien oder amerikanische Routen benötigen.

Auch Indien trifft es hart: Sein Erzfeind wird Sicherheitsgarant für einen seiner wichtigsten Energiepartner. Zugleich dürfte das Bündnis das westliche Konkurrenzprojekt IMEC endgültig beerdigen.

2. Trumps Vorstoß nach Bagram

Am 18. September enthüllte Trump, dass seine Regierung sechs Monate lang erfolglos versucht hatte, den Luftwaffenstützpunkt Bagram von den Taliban zurückzuerlangen.

Bagram ist weniger wegen Afghanistan wichtig, sondern wegen Chinas Nähe: „Nur eine Stunde entfernt von Chinas Nuklearraketen“, wie Trump selbst sagte.

Doch die Offenlegung dieser gescheiterten Verhandlungen war vermutlich taktisches Theater. Da eine Einigung unmöglich schien, nutzte Trump die Enthüllung, um Druck auf China vor seinem Telefonat mit Xi aufzubauen.

Das zeigt vor allem: Die USA haben keinerlei militärische Präsenz mehr in Zentralasien und sind auf leere Drohungen reduziert – während regionale Akteure längst ihre eigene Sicherheitsarchitektur etabliert haben.

3. Trumps Telefonat mit Xi

Am 19. September führten Trump und Xi ein Gespräch, das beide Seiten in geradezu euphorischen Tönen schilderten. Trump sprach von einer „langen, großen und großartigen Beziehung“ und davon, „gemeinsam Frieden und Stabilität“ zu schaffen.

Dieser Ton ist neu – ein Hinweis, dass Washington einsehen muss, dass Konfrontation aussichtslos geworden ist. Auch der zeitgleiche Besuch einer hochrangigen Kongressdelegation in Peking deutet auf eine koordinierte Wende hin: weg vom Nullsummenspiel, hin zu Koexistenz.

4. Aufhebung der US-Sanktionsausnahme für Chabahar

Ebenfalls am 19. September verkündeten die USA die Rücknahme der Sanktionsausnahme für Indiens Hafen Chabahar im Iran. Damit wird Indiens gesamte Zentralasien-Strategie lahmgelegt.

Ob als Zugeständnis an Israel nach der saudisch-pakistanischen Allianz oder als Signal an China: Für Indien ist es eine Katastrophe. Milliardeninvestitionen stehen auf dem Spiel, Alternativen fehlen. Zugleich zeigt es, wie rücksichtslos Washington mit „Partnern“ umgeht – ein weiterer Anreiz für Staaten, sich von den USA zu lösen.

Die Gravitation siegt

Alle Ereignisse spielen sich im „Heartland“ Eurasiens ab, wie es Halford Mackinder einst nannte: Afghanistan, Pakistan, Iran – die Schlüsselländer der Landmacht-Theorie. Genau dort zeigt sich heute die Rückkehr der geopolitischen Gravitation:

 

  • See- und Außenmächte (USA, Indien) werden aus dem Heartland verdrängt.
  • Landmächte (China, Russland, Pakistan) gewinnen strategischen Spielraum.
  • Infrastrukturprojekte wie BRI und CPEC verbinden das Heartland enger mit den Küstenregionen.

China setzt nicht auf imperiale Logik, sondern auf Gravitation: Es zieht Partner in seinen Orbit, weil Zusammenarbeit zur naheliegendsten Option wird.

Die Welt bewegt sich weg von Ideologie und Blöcken – hin zu Pragmatismus, Diversifizierung, flexiblen Bündnissen. Wer nicht „hedgen“ kann, verliert. Die EU, zu lange auf die USA fixiert, droht so zum größten Verlierer zu werden.

Die „amerikanische Ausnahme“ des 20. Jahrhunderts – „entweder mit uns oder gegen uns“ – war die historische Anomalie. Jetzt kehrt die Normalität zurück: Macht folgt Geografie.

Die Pax Americana endet nicht mit einem Knall, sondern mit einem Rückzug ins westliche Hemisphäre – während Eurasien sich neu ordnet. In der Geopolitik wie in der Physik gilt: Am Ende setzt sich die Gravitation durch.

 

Die Rückkehr der geopolitischen Gravitation