18. Juni 2025

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Die Kühnheit der Zurückhaltung: Warum China nicht intervenieren wird

 

Von Arnaud Bertrand

Eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird – zuletzt im Zusammenhang mit Gaza oder dem Iran – lautet: Warum greift China nicht ein? Oder wenn es sich nicht direkt militärisch beteiligt, warum stellt es nicht wenigstens den Handel mit Israel ein oder unterstützt den Iran mit Waffen zur Selbstverteidigung?

Ehrlich gesagt habe ich darauf keine einfachen Antworten. Und ich würde lügen, wenn ich vorgäbe, welche zu haben. Grundsätzlich gilt: Jeder, der behauptet, Einblick in das strategische Denken der chinesischen Führung zu haben, täuscht. Diese Leute lassen nichts durchdringen – buchstäblich niemand außerhalb des innersten Zirkels weiß, was sie denken. Wer also in westlichen Medien anonyme Quellen zitiert, die angeblich Zugang zu geheimen Überlegungen in Peking haben, verbreitet mit hoher Wahrscheinlichkeit Unsinn. Selbst hochrangige Mitarbeiter von Xinhua, der offiziellen Nachrichtenagentur Chinas und Sprachrohr der KP, haben keinen privilegierten Zugang zu den Überlegungen der Parteispitze. Dass westliche Journalisten es hätten, ist völlig ausgeschlossen.

Was man jedoch wissen kann – und jeder könnte es mit ein wenig Recherche – ist Chinas Geschichte und das, was es selbst über seine außenpolitischen Prinzipien öffentlich gemacht hat. Wer sich ernsthaft damit beschäftigt, findet erstaunlich klare Antworten.

Historisch betrachtet war China seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in genau fünf internationale bewaffnete Konflikte verwickelt: den Koreakrieg (1950–1953), in dem es auf Seiten Nordkoreas gegen die USA kämpfte; den Vietnamkrieg, in dem 300.000 chinesische Soldaten Nordvietnam unterstützten; den Grenzkrieg mit Indien 1962, ausgelöst durch Indiens Vorstöße in umstrittene Gebiete wie Aksai Chin; militärische Zusammenstöße mit der Sowjetunion in den späten 1960er-Jahren, etwa während des Ussuri-Zwischenfalls; sowie den kurzen, aber blutigen Krieg gegen Vietnam 1979 nach der vietnamesischen Invasion in Kambodscha.

Andere Ereignisse wie die Taiwan-Krisen, der Tibet-Einmarsch 1950–1951 oder jüngste Grenzzwischenfälle im Galwan-Tal mit Indien gelten völkerrechtlich als innerstaatlich oder lokale Auseinandersetzungen und nicht als militärische Interventionen.

Das Muster ist klar: China greift nur dann militärisch ein, wenn es seine eigene territoriale Integrität oder Sicherheit bedroht sieht. Es hat in seiner jahrtausendealten Geschichte nie militärisch außerhalb seiner Nachbarschaft interveniert – erst recht nicht in Konflikten, die nicht direkt seine Sicherheit betreffen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein chinesischer Staatschef dieses historisch tief verankerte Muster durchbricht.

Interessant ist auch: Zwei der fünf Kriege, die China führte, waren gegen die USA – und beide gewann es, obwohl es damals noch eines der ärmsten Länder der Welt war. Eine Erinnerung, die den China-Falken in Washington vielleicht nicht ungelegen käme.

Das bringt uns zur Frage der Prinzipien. Zentral in Chinas Außenpolitik ist die strikte Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Selbst wenn es einen klaren Aggressor gibt, lehnt China eine Einmischung ab, weil sie die Souveränität verletzen würde – auch wenn man moralisch auf der Seite des Opfers steht. Was in westlicher Politik oft als zynischer Pragmatismus erscheint, ist in Chinas Verständnis Ausdruck eines konsequenten Prinzips: Prinzipien gelten auch dann, wenn es unbequem ist.

Die Frage ist: Respektiert man die Souveränität eines Landes nur dann, wenn man mit dessen Politik einverstanden ist? Oder auch dann, wenn man sie ablehnt? China versucht letzteres. Es hält an der Souveränität selbst dann fest, wenn es schwerfällt – etwa im Fall Israels oder des Iran.

Dieses Verhalten erzeugt ein Paradoxon: Indem China sich nicht einmischt, erleichtert es anderen Staaten, dies zu tun. Doch China glaubt, dass sich Prinzipien durch Glaubwürdigkeit und Vorbildfunktion durchsetzen – nicht durch Gewalt oder Zwang. Ein selektives Eingreifen würde China zu einem weiteren Hegemon machen, der nach Belieben Regeln bricht.

China will eine Weltordnung demonstrieren, in der ein Staat auch ohne militärische Machtprojektion zu Einfluss gelangt. Das westliche Modell – so das chinesische Gegenbild – beruht auf Gewalt, Heuchelei und Doppelmoral. Chinas Alternative: Prinzipientreue, Geduld, Zurückhaltung. Das Ziel ist langfristige Glaubwürdigkeit, nicht kurzfristiger Vorteil.

China lehnt zudem jede Blockpolitik ab. Präsident Xi Jinping hat wiederholt betont, dass Denkweisen des Kalten Krieges, Einflusssphären und Konfrontation abzulehnen sind. Eine militärische Unterstützung des Irans oder Gazas würde China sofort in einen Anti-USA-Block rücken – genau die bipolare Logik, die es vermeiden will. Das würde nicht nur Chinas Bemühungen um eine multipolare Weltordnung untergraben, sondern auch seine Glaubwürdigkeit als nicht-hegemoniale Macht zerstören – gerade im globalen Süden, wo es als Alternative zur westlichen Dominanz wahrgenommen wird.

Ein historisches Gleichnis aus dem Jahr 288 v. Chr. verdeutlicht Chinas strategisches Denken: Zwei rivalisierende chinesische Reiche, Qin und Qi, erhoben sich beide zu Kaisern. Doch der wohlwollendere Staat Qi verlor durch diesen Schritt seinen moralischen Vorteil – und wurde schließlich von Qin vernichtet. Die Lehre: Wer sich als Mit-Hegemon aufspielt, verliert seinen Sonderstatus.

Auch Multilateralismus ist ein zentrales Element chinesischer Außenpolitik. China strebt nach echter, UN-gestützter multilateraler Ordnung. Es wird nicht unilateral eingreifen – selbst wenn das System blockiert ist. Wer das UN-System ignoriert, zerstört jede Autorität, mit der er es verteidigen will.

Strategisch vermeidet China zudem die gefährliche Überdehnung, die einst die Sowjetunion ruinierte und heute die USA schwächt. Statt Ressourcen für ferne Interventionen zu verschwenden, konzentriert sich China auf nationale Entwicklung – ein Erfolgsmodell, das es beibehalten will. Militärisches Abenteuer im Nahen Osten würde auch den USA Munition liefern, um Chinas Präsenz in Ostasien und um Taiwan zu stärken – das würde Peking keinen Gefallen tun.

Die Wiedervereinigung mit Taiwan, das übergeordnete strategische Ziel Chinas, verlangt ein Bild von Stabilität und Überlegenheit – nicht das eines aggressiven Hegemons. Wer sich weltweit militärisch verstrickt, verwirkt dieses Image.

Unterm Strich: Ob aus historischer, prinzipieller oder strategischer Sicht – alles spricht dafür, dass China nicht interveniert. Es würde seinem politischen Selbstverständnis widersprechen, seine Glaubwürdigkeit ruinieren und seine strategischen Ziele gefährden. Ob dieser Weg langfristig wirksamer ist als westliche Machtdemonstration, bleibt offen. Aber er ist eine echte Alternative zu einem System, das allzu oft in Gewalt, Intervention und Heuchelei endet.

Und so schmerzhaft es sein mag, Untätigkeit angesichts menschlicher Tragödien wie in Gaza zu sehen – Chinas Versuch, eine andere Großmachtrolle zu modellieren, verdient zumindest Respekt. Vielleicht sogar Bewunderung – für seine radikale Konsequenz und die Kühnheit, sich dem Kreislauf der Gewalt zu verweigern.

 

 

Die Kühnheit der Zurückhaltung: Warum China nicht intervenieren wird