30. Oktober 2025

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Die kommenden Bürgerkriege im Westen: Warum die Demokratien von innen zu zerbrechen drohen

 

Seit Jahrzehnten lebten die westlichen Gesellschaften in der Überzeugung, dass ihre politischen Systeme stabil seien. Demokratie, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit galten als Bollwerke gegen das Chaos, das in anderen Weltregionen wütete. Bürgerkriege, Staatszerfall, Massengewalt – das waren Probleme Afrikas, Lateinamerikas oder des Nahen Ostens. Europa und Nordamerika dagegen betrachteten sich als gesichert gegen diese Art innerer Zerstörung. Doch diese Selbstgewissheit erweist sich zunehmend als äußerst gefährliche Illusion.

Von Guido Grandt

Immer deutlicher treten „Bruchstellen“ in Europa zutage, die Experten wie der Brite David Betz (Professor für Krieg in der modernen Welt am Department of War Studies des King’s College London) und der Australier M.L.R. Smith (Professor für Strategische Theorie und Direktor des Centre for Future Defence and National Security in Canberra) in ihrem viel beachteten Essay „Reflections on Homeland Insecurity: The Strategic Anatomy of Civil Wars to Come“ als strategische Anatomie kommender Bürgerkriege beschreiben.

Was die beiden Sicherheitsexperten zeichnen, ist ein düsteres Bild einer „langen Dämmerung“: eine Epoche, in der westliche Demokratien nicht mehr von außen, sondern von innen heraus bedroht werden, weil sie die eigene Legitimität verspielt haben. Und weil die Kriege, die sie einst fern führten, in ihre eigenen Straßen zurückkehren.

Der Niedergang der „politischen Legitimität“

Im Zentrum dieser Entwicklung steht der Zerfall der „politischen Legitimität“. Legitimität ist das unsichtbare Band, das Bürger und Staat verbindet, das Vertrauen in die Wirksamkeit und Ehrlichkeit politischer Prozesse.

Wenn Menschen glauben, dass ihre Stimme zählt, dass ihre Entscheidungen respektiert werden, dann tragen sie auch Niederlagen im demokratischen Wettbewerb mit. Doch in den letzten zwei Jahrzehnten hat sich in vielen westlichen Ländern die Überzeugung verfestigt, dass dieses Band zerschnitten ist.

Betz und Smith schreiben dazu: „Wenn das Volk spürt, dass politische Institutionen nicht länger im Interesse der Bürger handeln, sondern nur noch sich selbst verwalten, dann wird das System als illegitim empfunden – und diese Wahrnehmung ist kaum umkehrbar.“

„Stimmenentwertung“ beim Brexit

Ein Beispiel liefert der Brexit. Wir erinnern uns: 2016 stimmte eine knappe, aber deutliche Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU. Anstatt dieses Votum zügig umzusetzen, erlebte das Land Jahre politischer Blockaden, juristischer Winkelzüge und offener Versuche, das Ergebnis rückgängig zu machen.

Für Millionen Bürger war dies nicht nur ein politisches Schauspiel, sondern der Beweis, dass ihre Stimme „entwertet“ worden war. Und damit „Volkes Wille“.

Abstimmen, bis das Ergebnis „passt“

Ähnliche Eindrücke entstanden bei Volksabstimmungen in der Europäischen Union, sei es beim Vertrag von Maastricht, von Nizza oder von Lissabon: Wurde falsch abgestimmt, wurde solange wiederholt, bis das Ergebnis passte.

Die Botschaft, die viele Bürger daraus ableiteten, war klar: Demokratie gilt nur, solange sie mit den Wünschen der politischen Eliten übereinstimmt.

Wo dieses Gefühl einmal fest verankert ist, verliert die gesamte politische Ordnung ihre Glaubwürdigkeit. Geschichte und Gegenwart zeigen: Wenn Legitimität schwindet, wächst die Bereitschaft zur radikalen Opposition – der Nährboden für innere Konflikte.

Mit den Kriegen kommen Traumata und interne Konflikte

Parallel dazu kehren globale Konflikte in den Westen zurück. Jahrzehntelang galt: Kriege finden woanders statt. Doch spätestens seit den Interventionen in Afghanistan und im Irak ist diese Unterscheidung zusammengebrochen. Gleich gar mit dem Ukraine-Krieg, sozusagen vor der „Haustür“ der EU/NATO.

Millionen Menschen flohen und fliehen noch aus den Kriegsgebieten und finden in Europa und Nordamerika Zuflucht. Mit ihnen kommen jedoch nicht nur Hoffnungen auf ein besseres Leben, sondern auch ungelöste Konflikte, Traumata und Loyalitäten zu uns.

Konfliktlinien mitten im Herzen Europas

In Metropolen wie London, Berlin oder Paris bilden sich Diaspora-Gemeinschaften, die in enger Verbindung zu Krisenregionen stehen. Konfliktlinien, die früher geographisch fern lagen, werden damit ins Herz westlicher Gesellschaften getragen.

Verstärkt wird diese Entwicklung durch digitale Medien. Facebook, Telegram, TikTok – sie sind die globalen Resonanzräume, in denen Propaganda, Ideologie und Mobilisierung in Echtzeit funktionieren.

Islamistische Netzwerke wie auch westliche Extremisten nutzen diese Kanäle, um Anhänger zu gewinnen, Anschläge zu koordinieren oder Feindbilder aufzubauen.

Betz und Smith betonen: „Die Konflikte, die wir einst für externe Einsätze hielten, haben sich längst in unsere Innenstädte verlagert. Die Trennlinie zwischen innerer und äußerer Sicherheit existiert nicht mehr.“

Europa als neues „Schlachtfeld“

Das Ergebnis ist eine Art „Re-Import“ des Krieges: Terroranschläge in London 2005, Paris 2015 oder Berlin 2016 und andere sind keine zufälligen Taten Einzelner, sondern direkte Rückwirkungen der „kleinen Kriege“, die westliche Staaten in der islamischen Welt geführt haben.

Die Kriege, die einst „dort“ waren, sind längst „hier“ angekommen. Sie verschmelzen Außen und Innen miteinander, so dass die Gesellschaften des Westens zum eigenen Schlachtfeld werden.

Zu diesem Legitimationsverlust und der Rückkehr globaler Konflikte treten neue Bruchlinien im Inneren.

Ethnische und kulturelle Fragmentierung

Bürgerkriege entstehen nie aus dem Nichts, sie reifen in den Rissen, die Gesellschaften spalten. Heute lassen sich mehrere dieser Risse klar erkennen.

Da ist zum einen die ethnische und kulturelle Fragmentierung. Multikulturelle Gesellschaften ohne verbindenden Rahmen produzieren weniger Integration als vielmehr Konkurrenz.

In vielen europäischen Großstädten existieren heute faktisch Parallelgesellschaften mit eigenen Normen, Regeln und Loyalitäten.

Spaltung zwischen Stadt und Land

Hinzu kommt die Stadt-Land-Kluft. In den USA stützt sich die Demokratische Partei vor allem auf urbane Milieus, während die Republikaner den ländlichen Raum dominieren.

Ähnliche Muster finden sich in Europa: Macron in Frankreich profitiert von den Metropolen, Marine Le Pen vom abgehängten Hinterland.

In Deutschland gewinnen Grüne und SPD in Großstädten, während die AfD überwiegend auf dem Land zweistellig ist. Solche Spaltungen verlaufen entlang kultureller, ökonomischer und politischer Linien und verhärten sich mit jeder Wahl.

Verlust von Sozialkapital

Schließlich ist da der Verlust von Sozialkapital. Kirchen, Vereine, Nachbarschaften – all jene Institutionen, die einst Gemeinschaft stifteten – verlieren rapide an Bedeutung. Vereinssterben, Entkirchlichung, Vereinsamung und Misstrauen machen Gesellschaften anfälliger für Radikalisierung.

Wo ethnische Unterschiede auf soziale Ungleichheit und politischen Frust treffen, entstehen explosive Gemengelagen, die schnell in Gewalt umschlagen können. Die Geschichte liefert warnende Beispiele dafür, wie solche Entwicklungen in Gewalt münden.

„Bleierne Jahre und Bürgerkriege“

Nordirland zwischen 1969 und 1998 ist ein prominentes Beispiel: Ein regionaler Konflikt, gespeist aus religiösen und ethnischen Spannungen, entwickelte sich zu einem drei Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg mit über 3.500 Toten.

Italien erlebte in den 1970er-Jahren die „bleiernen Jahre“, in denen linksextreme Rote Brigaden, rechtsextreme Netzwerke, Freimaurer, Geheimdienste und staatliche Repression das Land in einen Zustand permanenter Instabilität versetzten. Siehe dazu ausführlich mein Schwarzbuch Freimaurerei Band 1 – Geheimpolitik, Staatsterror, Politskandal.

In Lateinamerika schließlich führten soziale Spannungen, politische Polarisierung und der Verlust demokratischer Legitimität zu den „schmutzigen Kriegen“ von Argentinien, Chile oder El Salvador. Jeweils geprägt von Terror, Folter, Mord und dem völligen Zusammenbruch rechtsstaatlicher Prinzipien.

Die „neuen“ Bürgerkriege

Diese Beispiele verdeutlichen: Moderne Bürgerkriege sind asymmetrisch, urban, diffus. Sie dauern lange, sie zermürben, und sie hinterlassen Gesellschaften, die für Generationen gespalten bleiben.

„Die neuen Bürgerkriege sind keine Schlachten im klassischen Sinne, sondern Zermürbungskriege niedriger Intensität, die Gesellschaften aushöhlen, ohne dass sie es selbst sofort bemerken“, erklären die Experten David Betz und M.L.R. Smith dazu.

Epoche schleichender Instabilität

Genau hier setzt die düstere Prognose von Betz und Smith an. Sie sprechen von einer „langen Dämmerung“: einer Epoche schleichender Instabilität, in der Gewalt, Gegengewalt und Repression zum Alltag werden.

Ihre Kernthese: Einmal verlorene Legitimität ist irreversibel. Kein politisches System, das von der Bevölkerung als Betrug wahrgenommen wird, hat sich jemals durch Reformen vollständig erholt.

Wenn das Vertrauen erodiert, setzt eine Kettenreaktion ein: Radikale Bewegungen gewinnen Zulauf, Gewalt eskaliert, der Staat reagiert mit Härte, wodurch wiederum das Misstrauen wächst. Am Ende steht eine Spirale, aus der kaum ein Entkommen möglich ist.

„Keine Gesellschaft, die ihre politische Legitimität verspielt hat, hat jemals neuen Sand im Stundenglas erhalten“ (Betz/Smith).

Die „lange Dämmerung“ hat längst begonnen

Bürgerkriege der Zukunft werden nicht wie Gettysburg oder Stalingrad aussehen, sondern wie ein permanenter Ausnahmezustand: urbane Guerilla, Anschläge, digitale Mobilisierung, ein zermürbender Krieg niedriger Intensität, der Gesellschaften über Jahre hinweg aushöhlt.

Die Warnung ist deutlich: Der Westen ist nicht immun. Er verliert die Grundlagen, die ihn stark gemacht haben – Legitimität, Zusammenhalt, Vertrauen.

Die entscheidende Frage lautet daher nicht mehr, ob Europa und Nordamerika Bürgerkriege erleben werden, sondern wann. Und wie lange sie dauern. Wer die Zeichen übersieht, wer glaubt, dass die eigene Gesellschaft gegen den Zerfall gefeit sei, der macht sich Illusionen. Die „lange Dämmerung“ hat bereits begonnen.

Guido Grandt (geb. 1963) ist investigativer Journalist, Publizist, TV-Redakteur und freier Produzent. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf Recherchen zu organisierter Kriminalität, Geheimgesellschaften sowie auf brisanten Themen aus Politik, Wirtschaft, Finanzen, Militär und Sicherheit. Darüber hinaus widmet er sich der Aufdeckung verborgener oder tabuisierter Hintergründe zeitgeschichtlicher Ereignisse. Guido Grandt veröffentlichte bisher über 40 Sachbücher und verfasste rund 6.000 Artikel. 

Quellen:

  • https://www.militarystrategymagazine.com/exclusives/reflections-on-homeland-insecurity-the-strategic-anatomy-of-civil-wars-to-come/
  • David Betz & M.L.R. Smith: Reflections on Homeland Insecurity: The Strategic Anatomy of Civil Wars to Come, Military Strategy Magazine, 2023.
  • Brendan O’Neill: Brexit Betrayed, Spiked, 2019.
  • Olivier Roy: Globalized Islam – The Search for a New Ummah, London 2004.
  • Paul Dixon: Northern Ireland – The Politics of War and Peace, London 2008.
  • Anna Cento Bull: Italian Neofascism – The Strategy of Tension and the Politics of Nonreconciliation, Oxford 2007.
  • Marguerite Feitlowitz: A Lexicon of Terror – Argentina and the Legacies of Torture, Oxford 1998.

 

 

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