Die Schweiz hat sich als Gastgeberin und Scharnier für ein Programm profiliert, das weit über technische Standarddiskussionen hinausgeht: die globale Einführung digitaler Identitäten. Die Global Digital Collaboration (GDC25) fand Anfang Juli 2025 in Genf statt; eine zweite Ausgabe ist als Folgekonferenz für 24.–26. Juni 2026 angekündigt — mit dem erklärten Ziel, die Konzepte zu verfeinern und die praktische Umsetzung voranzutreiben. Hier.
Das trifft einen Nerv: Wallets, verifizierbaren Zertifikaten und interoperable Identitäts-Infrastrukturen sollen formal normative Lücken schließen und Services (Banking, Gesundheit, Soziales, Reisen) nahtlos verbinden. Offiziell geht es um Interoperabilität, Privacy-Enhancing-Technologien und bessere staatliche Dienstleistungen — de facto entsteht damit aber ein Architekturentwurf, der Identität zum Schlüssel für weitreichende Zugangs- und Kontrollfunktionen macht. (OpenWallet Foundation)
Wer veranstaltet und wer sitzt am Tisch?
GDC präsentiert sich als multistakeholder-Plattform, ausgetragen von der Schweizerischen Eidgenossenschaft und organisiert in Kooperation mit zahlreichen Staaten, IGOs, Standards- und Open-Source-Communities. Zu den beteiligten / präsentierten Organisationen zählen etwa OpenWallet Foundation, LF Decentralized Trust / Linux Foundation, ICAO, WHO, World Bank, UNDP, W3C und ISO — auf dem Programm tauchen auch Industriepartner wie Visa auf. (e-ID)
Parallel sind zahlreiche gewerbliche Interessenten eng eingebunden: Open-Source-Stiftungen und Standardsgruppen arbeiten Hand in Hand mit Beratungs-, Cloud- und Zahlungsanbietern sowie Blockchain- und Identity-Spezialisten. LF Decentralized Trust etwa nennt als Mitglieder bzw. Partner Firmen wie ConsenSys, Kaleido, Valor Capital und andere, die Infrastrukturen, Implementierungen und Services liefern — also genau jene Geschäftsfelder, die bei breiter Implementierung der digitalen ID wachsen würden. (linuxfoundation.org)
Warum das heikel ist – drei zentrale Kritikpunkte
1. Beschleunigte Implementierung statt öffentliche Debatte
Die Ankündigung einer zweiten Konferenz 2026 signalisiert: Es geht nicht nur um Normen, sondern um Beschleunigung der Umsetzung. Wenn Standards und Pilotprojekte zuerst in technischen Konferenzen geformt werden, droht die demokratische Kontrolle hinterherzuhinken.
2. Gewinner der Umsetzung sind klar erkennbar
Wer Wallet-APIs, Verifizierungsdienste, Zertifizierungsprogramme oder Integrations-Services bereitstellt, profitiert direkt: Zahlungsdienstleister, Cloud-Provider, Identity-Startups, Beratungsfirmen und Integratoren. Die Beteiligung von Zahlungsnetzwerken (z. B. Visa) und Konsortien deutet auf lukrative Geschäftsfelder bei Rollouts hin — technische Standardsetzung ist also nicht neutral, sondern ökonomisch relevant.
3. Risiken: Function-Creep, Ausschluss, Überwachung
Wenn digitale IDs zu Zugangsvoraussetzungen für Bankkonten, Leistungen oder Mobilität werden, entstehen Machtverschiebungen: Behörden und private Gatekeeper können über Teilhabe mitentscheiden. Ohne gesetzliche Zweckbindung, echte Offline-Alternativen und unabhängige Audits drohen Ausgrenzung und Missbrauch.
Konkrete Punkte, die jetzt öffentlich geklärt werden müssen
- Transparenz der Sponsor- und Partnerlisten: Wer finanziert Agenda, Sessions und Folgeprojekte — und mit welchen Interessen? (Beispiel: Industriepartner in Panels wie Visa müssen offengelegt werden). (Global Digital Collaboration)
- Öffentliche Menschenrechts- & Datenschutz-Impact-Assessments vor jeder Skalierung — Ergebnisse vollständig publizieren. (Global Digital Collaboration)
- Gesetzliche Zweckbindung & Opt-out-Garantien: Nutzung von IDs strikt auf definierte Zwecke beschränken; nicht-digitale Wege dauerhaft sicherstellen. (Global Digital Collaboration)
- Verhinderung von Vendor-Lock: Offene Referenz-Implementationen, unabhängige Zertifizierer und Verpflichtung zu offenen Spezifikationen. (OpenWallet Foundation)
- Parlamentarische Kontrolle statt technokratischer Vordefinition: Politische Entscheidungen über Reichweite und Pflichten dürfen nicht allein in technischen Foren vorentschieden werden. (e-ID)
Fazit
Die Schweiz bietet mit Genf eine mächtige Bühne für die Standardisierung digitaler Identitäten — das ist an sich positiv, weil Interoperabilität echte Vorteile bringen kann. Entscheidend ist aber: Wer die Regeln setzt, wer profitiert und wer die Risiken trägt, muss öffentlich und demokratisch geklärt werden — bevor technische Arbeitsgruppen Fakten schaffen. Die angekündigte zweite Konferenz 2026 könnte die kritische Phase sein, in der politische Weichen endgültig gestellt werden. Jetzt ist die Zeit, Transparenz, Rechtsgarantien und starke Schutzmechanismen einzufordern — nicht erst, wenn die Wallets in Millionen Taschen liegen. (e-ID)
