Guten Morgen aus Den Haag, liebe Leserin, lieber Leser,
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Fünf Monate nach dem Amtsantritt des US-Präsidenten müssen wir uns eine entscheidende Frage stellen: Wie viele Donald Trumps gibt es – einen, zwei, viele? Die Frage klingt nur vordergründig wie ein Scherz. Den Ex-Immobilienpleitier und Ex-Fernsehunterhalter im mächtigsten Amt der Welt zeichnet eine sprunghafte Persönlichkeit aus, das wussten wir schon. Ungeduldig und unberechenbar, prinzipien- und skrupellos, selbstverliebt und autoritär: Ich könnte diesen Tagesanbruch problemlos mit unrühmlichen Adjektiven füllen, die Trump von Beobachtern, Kommentatoren und erst recht politischen Gegnern zugeschrieben werden.
Nicht einmal seine eigenen Minister wissen verlässlich, wie ihr Boss gerade tickt. Stinkt ihm etwas oder kommt ihm mal wieder eine Schnapsidee in den Sinn, sodass er irgendeine SUPER DRINGENDE UND SUPER WICHTIGE BOTSCHAFT!!! in sein Netzwerk hämmert, klingeln nicht nur die Eilmeldungen, sondern steht oft genug auch der Stab des Präsidenten Kopf: Was hat er da wieder gemacht? Meint er das ernst? Woher hat er die Info? Was kommt als Nächstes? Wer nicht bereit ist, sich Trumps wechselhaften Launen zu unterwerfen und sein Rückgrat an der Garderobe des Weißen Hauses abzugeben, braucht sich keine Hoffnung auf eine lange Amtszeit als Minister oder Berater zu machen
Dementsprechend speichelleckerisch sind Außenminister Marco Rubio und Verteidigungsminister Pete Hegseth unterwegs, zwei der drei wichtigsten Personen auf dem heutigen Nato-Gipfel hier in Den Haag. Die Präsidenten, Regierungschefs und Minister der anderen 31 Mitgliedstaaten werden alles daransetzen, sich in den Konferenzräumen des „World Forum“ am Churchillplein 10 diesen beiden Herren zu nähern, um herauszufinden, wie der Wind in Washington gerade weht – vor allem die Europäer und allen voran die Deutschen Johann Wadephul (Außen) und Boris Pistorius (Verteidigung): Was ergibt der Small Talk vor der Arbeitssitzung, was drückt die Mimik der Amerikaner während der Aussprache aus, welches Meeting schwänzen sie? Jeder Moment zählt.
Aber sobald die Nummer eins auftritt, werden sich natürlich alle Blicke auf IHN richten, den selbst ernannten GRÖSSTEN DEALMAKER ALLER ZEITEN: Hält sich Trump an die mühsam ausbaldowerte Gipfelagenda? Gibt er sich zufrieden mit dem Versprechen der anderen Staaten, künftig fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Verteidigungsausgaben zu stecken? Kurz vor seinem Abflug in die Niederlande teilte Trump eine Grafik, die den eklatanten Unterschied zwischen den Militärbudgets der USA und jenen aller anderen Nato-Länder zeigt, und setzte den Kommentar darüber, das wolle er auf dem Gipfel mit den anderen Mitgliedern der Allianz „diskutieren“. Seine Warnung, die Nato zu verlassen, musste er gar nicht wiederholen. Die Europäer haben längst verstanden, dass es fünf vor zwölf ist: Wenn sie jetzt nicht handeln, könnten sie Putins Eroberungsgelüsten bald allein ausgesetzt sein.
Deshalb handeln sie endlich: Nato-Generalsekretär Mark Rutte funkte vor Gipfelbeginn eine SMS nach Washington, in der er Vollzug beim Fünfprozentziel verkündete und sich dem „lieben Donald“ unterwarf: „Du hast uns zu einem wirklich wichtigen Moment für Amerika, Europa und die Welt geführt. Du wirst etwas erreichen, was seit Jahrzehnten KEIN amerikanischer Präsident geschafft hat. Die Europäer werden einen HOHEN Preis zahlen, so, wie es sein soll, und das wird dein Sieg sein.“ Trump teilte die Nachricht genüsslich auf seinem Propagandanetzwerk: Alle Welt tanzt nach seiner Pfeife.
Das kann man fürchterlich eitel und egozentrisch und narzisstisch finden, aber eines lässt sich nicht verhehlen: Donald Trump hat Erfolg. Diese Juniwoche verläuft triumphal für ihn. Erst wird dank seines Eingreifens die Bedrohung des iranischen Atomwaffenprogramms aus der Welt geschafft oder zumindest stark verringert. Und nun bringt er auch noch die saumseligen Europäer dazu, endlich selbst für ihre Sicherheit aufzukommen. Welch ein Unterschied zum altersschwachen Joe Biden, der beim Nato-Gipfel in Washington vor einem Jahr mit brüchiger Stimme die transatlantische Zusammenarbeit pries, aber nicht nur von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni spöttische Blicke erntete. Biden war ein Mann der schönen Worte, wurde von vielen Partnern aber nicht für voll genommen. Trump redet auch viel (oft zu viel), aber niemand käme auf die Idee, ihn auch nur eine Sekunde lang nicht ernst zu nehmen.


Genau das ist der Grund für die Frage, ob es womöglich mehr als einen Donald Trump gibt. Zumindest zwei Wahrnehmungen dieser Person scheint es zu geben: Da ist zum einen das irrlichternde Großmaul, beschimpft, verspottet und verachtet. Und da ist zum anderen der Präsident, der Fakten schafft. Dem gelingt, was seinen beliebten Vorgängern Barack Obama und Joe Biden nicht gelang: Aggressoren zu bezwingen und das Verteidigungsbündnis der westlichen Demokratien wiederzubeleben.
Dieser zweite Trump – so unberechenbar er auch erscheinen mag – genießt wachsenden Respekt bei Außenpolitikern und auch bei immer mehr Regierungschefs. Nicht nur Kanzler Friedrich Merz will Trump dazu bewegen, dieselbe Entschlossenheit, die er gegen das iranische Regime gezeigt hat, auch gegen Putin und dessen Kriegszug in der Ukraine zu zeigen: nicht mit Bomben, sondern mit harten Sanktionen gegen den Kreml, die der US-Kongress gegenwärtig vorbereitet. Je nachdem, ob er grünes Licht dafür gibt oder sein Veto einlegt: Trump kann entscheiden, ob der Ukraine-Krieg noch viele Monate weiter tobt oder Russland endlich ehrlich über eine Feuerpause verhandeln muss.
Wie auch immer der heutige Gipfeltag verläuft, eines steht schon fest: Es ist ein guter Tag für die Demokratien des Westens. Jahrzehntelang haben sich die Europäer unter dem amerikanischen Schutzschild ausgeruht, haben für alles Mögliche Geld ausgegeben – abschlagsfreie Frührenten, Subventionen für Pendler, Erben und Einwanderer, die Rettung ihrer Gemeinschaftswährung – und dabei ihre Armeen verlottern lassen. Diese Naivität hat sich bitter gerächt, seit Putin seine letzte Maske fallen ließ und die Ukraine überfiel.
Nun müssen die Europäer für ihren Fehler bezahlen. Sehr viel bezahlen. Schrittweise bis 2029 fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung: Das bedeutet, dass sich bisher wohlhabende, friedliche und bequeme Staaten wie Deutschland, Frankreich und Italien bis zum Anschlag verschulden und bei allem Nicht-Militärischen eisern sparen müssen. Hierzulande sprudelt gegenwärtig noch das Sonderschuldenvermögen, aber spätestens 2028 ist die volle Summe der Verteidigungsausgaben aus dem regulären Etat zu stemmen. Rund ein Drittel ihrer Gesamtausgaben wird die Bundesregierung künftig für die äußere Sicherheit ausgeben müssen.
Das gibt ein politisches Hauen und Stechen. Es wird sehr geschickte Demokraten brauchen, um die absehbaren Verteilungskonflikte zu moderieren und den Triumph der Spalter von rechts und links zu verhindern. Aber diese Herausforderung muss das Land annehmen. Jede Lösung ist besser, als zum Opfer von Putins Todesmaschine zu werden. Das hat man in Europas Chefetagen bitter erkannt – und reagiert nun spät, aber gerade noch rechtzeitig mit einer gigantischen Aufrüstung zur Verteidigung der Freiheit. Donald Trump sei Dank.