8. November 2025

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Krieg als „Planungsparameter“: Entsteht in Kiew Europas Silicon Valley?

 

Während ein Krieg tobt, entsteht in der ukrainischen Hauptstadt ein Zentrum für digitale Zukunftstechnologien. Start-ups, Techtalente und Risikokapital kommen nach Kiew. Gleichzeitig fehlt es in Westeuropa an qualifizierten Fachkräften. Manche Investoren sprechen schon von einem europäischen Silicon Valley.

„Kommt nicht erst, wenn die Welle schon ihren Höhepunkt erreicht hat. Diese Welle steigt gerade jetzt an.“ Mit diesen Worten ermutigt Charles Whitehead, US-amerikanischer Jurist, Akademiker und Investmentbanker, die großen Akteure der Investorenszene, Geschäfte in der Techbranche der Ukraine zu machen.
Whitehead und sein Partner, der französische Unternehmer Dominique Piotet, gaben Ende September den Beginn eines Risikokapitalfonds für ukrainische IT-Unternehmen in Höhe von 50 Millionen Euro mit dem Namen „Ukraine Phoenix Tech Fund“ bekannt.
Das Ziel der Gründer von Phoenix ist es, lokale Talente aus der Techbranche zu fördern und ein „europäisches Silicon Valley“ aufzubauen.
In einem Interview mit der ukrainischen Zeitung „Kyiv Independent“ erklärte Whitehead: „Ich war früher einmal im Silicon Valley, als das höchste Gebäude dort noch sechs Stockwerke hatte. Wenn man sich das heutige Kiew ansieht, dann erkennt man, dass es selbst während des Krieges alles hat, was ein Silicon Valley ausmacht.“

Hauptstandort des Phoenix-Risikokapitalfonds ist UNIT.City, ein 25 Hektar großer Innovations- und Technologiepark in Kiew. Hier haben sich bereits mehr als 100 Firmen angesiedelt.

Foto: UNIT.City

Angesichts der Auswirkungen des Krieges ist die Ukraine auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Ein Teil davon erfolgt in Form von ausländischen Direktinvestitionen.
Die Summe ausländischer Direktinvestitionen in der Ukraine im Jahr 2023 lag bei 54,2 Milliarden US-Dollar – ein Anstieg von 6 Prozent gegenüber 2022, wie aus dem UN-Weltinvestitionsbericht 2024 hervorgeht.
Laut der britischen Lloyds Bank gingen ausländische Direktinvestitionen in den ersten elf Monaten des Jahres 2024 allerdings um 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Die ukrainische Regierung startete daraufhin eine Initiative, um ausländische Investitionen in Höhe von bis zu 400 Milliarden US-Dollar in verschiedenen Sektoren anzuziehen. Dazu gehört neben den Sektoren Agrar, Verteidigung und Energie auch der Techsektor.
Zu den wichtigsten Herkunftsländern von Direktinvestitionen gehören Zypern, die Niederlande, die Schweiz und die USA. Deutschland rangierte 2024 mit 3,7 Prozent auf Platz fünf.
Laut Informationen des ukrainischen Digitalministeriums vom März 2025 haben Google, Microsoft und Amazon Web Services Investitionsprogramme zur Unterstützung ukrainischer Technologieunternehmen ins Leben gerufen. „Diese Kooperationen ermöglichen ukrainischen Unternehmen den Zugang zu globaler Finanzierung, Cloud-basierter Infrastruktur und Ressourcen für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz“, so das Ministerium.

Wie ein Phönix aus den Trümmern des Krieges?

„In der Ukraine gibt es ein ‚Tal der Toten‘, in dem kein Zugang zu Kapital existiert“, sagte Phoenix-Mitgründer Piotet im Oktober im Gespräch mit „Kyiv Independent“. Der Phoenix-Fonds soll sich also sinnbildlich wie der mythologische Vogel aus den Ruinen des Krieges erheben.
Phoenix investiert in Unternehmen in der Frühphase – potenziell mit enormem Wachstum, aber hohem Risiko. Der Techfokus reicht dabei von erneuerbaren Energien bis zu KI und schließt Firmen mit Hardware- sowie Softwarefokus ein. Mit Verteidigungstechnologie wolle man vorerst nicht arbeiten, betonen die Gründer, da diese bei der Konzeptentwicklung im Jahr 2019 noch kein Fokus war.
Die Unterstützung für die Unternehmen ist nicht nur finanziell, sondern umfasst auch Expertise, Begleitung und Netzwerke. „Wenn ein Start-up in Deutschland expandieren möchte – wir kennen dort viele Menschen“, so Whitehead.
Hauptstandort des Projekts ist UNIT.City, ein 25 Hektar großer Innovations- und Technologiepark in Kiew, in dem sich mehr als 100 Firmen angesiedelt haben. Dort gibt es auch Coworkingflächen, Cafés, Bildungs- und Forschungszentren. Zudem ist es Piotets ehemaliger Arbeitsplatz als CEO.
Die französische staatliche Investitionsbank Bpifrance und die französische Entwicklungsbank Proparco haben Kapital zugesagt. Die Europäische Investitionsbank der EU steuert weitere 15 Millionen Euro bei. Es ist das erste Projekt, das von Europas Wiederaufbaufonds für die Ukraine, EU4U, unterstützt wird.

Das „Schlüsselkapital“ der Ukraine?

Der US-Thinktank Atlantic Council beschreibt die ukrainische IT-Branche in einem Bericht von Anfang 2025 als „Schlüsselkapital“ des Landes. Seit Beginn des Krieges vor drei Jahren habe sie sich „als eine widerstandsfähige und dynamische Kraft erwiesen“.
Dem Bericht zufolge erreichten die ukrainischen IT-Dienstleistungsexporte im Jahr 2024 6,45 Milliarden US-Dollar, was 4,4 Prozent des BIP ausmachte. Gleichzeitig entsprach dies rund 38 Prozent der gesamten Dienstleistungsexporte der Ukraine. Die Zahl der IT-Fachkräfte in der Ukraine stieg auf über 300.000.
Laut dem Portal UkraineInvest gab es 2023 über 2.300 registrierte Techunternehmen. Laut staatlichen Angaben werden im Land jährlich mehr als 40.000 Absolventen in IT-bezogenen Bereichen ausgebildet.
In jüngerer Vergangenheit können ukrainische IT-Fachkräfte bereits mehrere Erfolgsgeschichten vorweisen. Dazu gehört Grammarly, das in Kiew seinen Anfang nahm. Den KI-basierten Schreibassistenten nutzen weltweit täglich mehr als 30 Millionen Menschen und seine drei Gründer sind mittlerweile Milliardäre.

Engagement trotz Risiko

Phoenix hofft auch auf weitere internationale Investoren. Die anhaltende Unsicherheit aufgrund des Krieges solle Investoren nicht abschrecken, so die Gründer. Ukrainische Start-ups kalkulieren kriegsbedingte Risiken mittlerweile schlicht als „Planungsparameter“ ein. Machtverschiebungen, Rückzug von Partnern und kurzfristige Marktveränderungen gehören zu den Unsicherheiten.
Das Umfeld sei einzigartig, so Piotet, weil die Kombination aus hoher fachlicher Kompetenz und knappen finanziellen Ressourcen besonders kreative und unkonventionelle Lösungen hervorgebracht habe.

Ein Beispiel für die Unternehmensrisiken in der Ukraine: Ein Pressehaus in Charkiw, bestehend aus einer Druckerei, Redaktionsbüros und Geschäften, nachdem es am 31. Juli 2022 durch einen Raketenangriff beschädigt wurde.

Foto: Sergey Bobok/AFP via Getty Images

Entlassungswellen im Silicon Valley und Europas Chancen

In den vergangenen zwei bis drei Jahren erlebte der US-Techsektor Entlassungswellen, verstärkt durch den Aufstieg der Künstlichen Intelligenz. Betroffen waren Konzerne wie Meta, Microsoft, IBM oder Amazon. Laut RationalFX haben US-Techfirmen in diesem Jahr rund 140.000 Mitarbeiter entlassen.
Europa hingegen kämpft mit einem Fachkräftemangel. Laut Eurostat fand im Jahr 2024 über die Hälfte der Unternehmen in der EU nicht genügend IT-Personal. Hier könnte die Ukraine eine Rolle spielen.
Im Jahr 2023 sagte Phoenix-Mitgründer Piotet gegenüber „Tech Ukraine“: „Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ukraine nach dem Krieg der attraktivste Ort sein wird.“ Ob daraus tatsächlich ein „europäisches Silicon Valley“ entsteht und wann „nach dem Krieg“ sein wird, bleibt jedoch offen.