17. August 2025

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Die Schattenfänger

Der Sommer, in dem alles begann, war anders. Nicht, weil es wärmer war als sonst oder weil die Luft
nach Meer roch – sondern, weil die Schatten verschwunden waren. Nicht nur ein bisschen kürzer, wie
es am Mittag war, wenn die Sonne fast senkrecht steht. Nein. Ganz weg. Einfach… verschwunden.
Arian bemerkte es nicht sofort erst an einem Dienstagmorgen, als er auf seinem Lieblingsplatz im
Garten saß und versuchte, seine Lieblings-Mangafiguren zu zeichnen. Er legte den Bleistift auf die
Bank, drehte das Papier und stutzte. „Hm.“ Der Bleistift lag im vollen Sonnenlicht. Keine Spur eines
Schattens. „Vielleicht bin ich einfach zu müde“, murmelte er.
Doch dann sah er den Hund von Bäckerin Linde vorbeilaufen – ein fetter Mops mit einer rosa Schleife
– und auch der hatte keinen Schatten. Arian blinzelte. „Okay… das ist seltsam.“
Spätestens beim Frühstück wusste Arian: Es lag nicht an ihm. Seine Mutter, die sonst nie auf solche
Dinge achtete, stellte die Kaffeekanne ab, sah zum Fenster hinaus und meinte nur: „Also das habe ich
in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“ „Was?“ fragte Arian mit vollem Mund. „Schau mal
raus.“
Er sah, da war die Straße, da waren die Leute, da war die Sonne. Aber keine Schatten. Die alten
Männer, die sich sonst am Brunnen zum Plausch trafen, liefen unruhig herum, beugten sich nach
unten, als könnten sie die verschwundenen Schattengestalten einfach auf dem Boden finden.
Der Bürgermeister versuchte, die Sache zu beruhigen. „Nur ein seltenes Wetterphänomen!“, rief er.
Niemand glaubte ihm.
Noch am selben Tag fand Arian einen Umschlag ohne Absender im Briefkasten. Darin lag eine Karte
– alt, vergilbt, mit einer merkwürdigen Zeichnung. In der Mitte: ein Wald, den Arian sofort erkannte.
Der Finsterhain, nannten sie ihn, etwa zwei Stunden Fußweg vom Dorf entfernt. Darunter stand in
krakeliger Schrift: „Wenn du die Schatten zurückholen willst, komm vor Sonnenuntergang und
bring Mut mit.“
Arian war kein Held. Er war 14, schmächtig und hatte eine Sammlung von Superheldenfiguren, die er
nie vor seinen Freunden zugeben würde, zu haben. Aber er wusste: Wenn er nichts tat, würde er ewig
darüber nachdenken, also musste er was tun.
Der Finsterhain war nicht wirklich finster – außer an diesem Tag, wo das Licht seltsam wirkte, aber
das war auch nicht finster sondern irgendwie gruselig. Arian schnürte seinen Rucksack, packte eine
Flasche Wasser, ein Notizbuch und eine Taschenlampe ein, man konnte ja nie wissen. „Wohin gehst
du?“ fragte seine Mutter. „Spazieren“ antwortete er. Sie zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts
weiter.
Je näher Arian dem Wald kam, desto stiller wurde es. Keine Vögel, kein Rascheln. Nur das Knirschen
seiner Schritte auf dem trockenen Boden. Er sah auf die Karte: Ein rotes X markierte einen Ort tief im
Wald.
An einer Lichtung blieb er abrupt stehen. Jemand saß dort auf einem Baumstamm – ein alter Mann mit
einem langen, zerzausten Mantel. Neben ihm ein Stock, der eher wie ein Zauberstab aussah, wie der
vielfach gebogene Stock von dem Zauberer Gandalf aus dem Film, der Herr der Ringe. „Du bist
gekommen“, sagte der Mann, ohne aufzusehen. „Sind Sie der… äh… Auftraggeber? Ich meine der die
Karte bei uns eingeworfen hat?“ stotterte Arian. Der Alte lächelte schwach. „Die Schatten gehören
nicht nur euch. Sie gehören der Welt. Jemand stiehlt sie.“ Nach einer Weile sprach er: „Die Menschen
haben Angst vor ihrem Schatten, Sie wollen ihn nicht ansehen, deshalb haben sie ihn in die
unterirdischen Höhlen gebannt, aber dort wurden sie immer mächtiger und größer und planen in
baldiger Zukunft, die Macht über die Welt zu übernehmen.“
Arian wollte erst lachen, aber der ernste Blick des Mannes hielt ihn zurück. „Wer…?“ „Die
Schattenfänger“, sagte er. „Sie leben tief unter der Erde. Sie glauben, ohne Schatten werden die
Menschen ihre Echtheit und sich selbst verlieren – und ihre Herzen können leicht gestohlen werden.
Und wenn sie die Herzen der meisten Menschen gestohlen haben, werden sie die Herrscher der Welt.“
Der Alte gab Arian einen kleinen Spiegel. „Das ist dein Schlüssel. Aber bevor du zu ihnen gelangst,
musst du drei Prüfungen bestehen: Mut, Herz und Freude.“ Arian wollte protestieren, doch der Mann
war schon verschwunden. Er stand allein auf der Lichtung, den Spiegel in der Hand.
Die erste Prüfung kam schneller, als er dachte: Ein großer, schwarzer Hund stellte sich ihm in den
Weg. Er knurrte, Zähne blitzten. Arian spürte, wie sein Herz raste. „Ich… will dir nichts tun“, sagte er
leise. Der Hund fletschte die Zähne – und verschwand wie Rauch. „Mut“, murmelte Arian. „Haken
dran.“
Am Waldrand entdeckte er ein kleines Mädchen, das weinte. „Ich finde meinen Teddy nicht mehr“,
schluchzte sie. Arian wollte weiter – schnell weiter – aber irgendetwas in ihm blieb stehen. Er suchte,
fand den Teddy in einer Astgabel und gab ihn dem Mädchen. „Danke“, flüsterte sie, und Arian
blinzelte überrascht, als sie… durchsichtig wurde und verschwand.
„Herz – auch erledigt“, murmelte er.
Die dritte Prüfung war kniffliger: Ein Rabe sprach ihn an. „Löse mein Rätsel: Was kann man brechen,
ohne es in den Händen zu halten?“ Arian dachte lange nach. Schließlich: „Ein Versprechen.“ Der Rabe
krächzte zustimmend, ließ eine Feder fallen und flog davon. Von weitem hörte er die Stimme des
Rabens noch rufen: „Erlöse die Schatten, bevor es zu spät ist.“
Mit Spiegel und Feder fand Arian den Eingang zu einer Höhle. Er knipste die Taschenlampe an und
kroch hinein, bis er auf eine riesige Halle stieß. Dort lagen die Schatten, zusammengerollt wie
schlafende Tiere, bewacht von dunklen Gestalten mit glühenden Augen. Arian hielt den Spiegel hoch.
Das Licht der Taschenlampe brach sich darin – und die Schatten begannen zu sich zu bewegen. Die
Schattenfänger zischten gefährlich, aber Arian lief los, der Spiegel leuchtete wie eine kleine Sonne.
Als er wieder ins Freie trat, war der Himmel voller tiefer, langer Schatten und er sah seinen eigenen
auf dem Boden tanzen. Und da saß er wieder, der alte Mann mit seinem Stock und lächelte ihn an.
„Das hast du gut gemacht – hier“ – er reichte ihm ein Blatt, als Arian darauf schaute las er: Der
Schatten ist wichtig, beinahe wäre er verloren gegangen, weil niemand ihn haben wollte. Aber
die Menschen und die Welt sind erst vollständig mit Licht und Schatten.
Als Arian zurückkam ins Dorf hörte er schon von Weitem Gelächter und Arian wunderte sich über das
Bild, das sich ihm da bot. Auf dem Dorfplatz sah er wie Junge und Alte fröhlich miteinander tanzten
und ihre Schatten tanzten neben ihnen auch.

 

Quelle: Ein wundervoller Beitrag von unserem lieben Mitglied Melina