Kriege und Krankheiten prägen Europa nachdem Kirche und skandinavische Ritter den Subkontinent unter ihre Gewalt brachten. Erst seither haben wir Kenntnis über wiederkehrende Epidemien.
Zunächst nannte man alle Seuchen Pest, dann kamen die Pocken, die Cholera, die „Polio“ und neuerdings grippale Infekte. Kommen und Gehen der Krankheitswellen folgt weder Zufall noch Naturgesetzen. Alles deutet auf Zivilisationseffekte hin. Die wahre Natur der Pocken wird bis heute verkannt, obwohl Ursache und Verbreitung bereits 1882 geklärt wurden.
Die Pocken waren keine europäische Krankheit. Aber zu einem Gesundheitsdesaster wurden sie nur in den Händen der Europäer. Nicht allein durch epidemische Häufungen, sondern weil sie zum Einstieg der westlichen Medizin in das fehlgeleitete Impfkonzept führten. Statt Ursachenforschung verstiegen sich akademische Ärzte dazu, der Krankheit entgegenzuwirken, indem sie sie gezielt verbreiteten. Eine genaue unbefangene Beobachtung des Krankheitsgeschehens hätte die Pocken immer zu einer seltenen Krankheit degradieren können.
Fast ein ganzes Jahrhundert wollte man Gesunde mit Eiter von Menschenpocken, dann ein weiteres Jahrhundert mit Eiter von angeblichen Kuhpocken immun machen. Beides war zum Scheitern verurteilt, da es die Ursache nicht beseitigte und die Resistenz gegen die Pocken nicht steigern konnte. Auch brillante Kritiker des unsinnigen Treibens, die sich gegen das Impfunwesen stemmten, konnten nicht erklären, wieso die Pocken zeitweise verschwanden, schlagartig Epidemien in geimpften Bevölkerungen verursachten und ohne wirksame Maßnahmen so schnell abebbten wie sie gekommen waren.
Die knappe Veröffentlichung eines Arztes und Glasmalerei-Unternehmers von 1882 entging der medizinischen Aufmerksamkeit oder wurde bewusst ignoriert. [Oidtmann HJ: Geschichte der Pocken, ein Culturkampf der Medicin. Foessen; Frankfurt/Main 1882]
Dabei hatte Heinrich Josef Oidtmann (1833-90) aus Linnich (Nordrhein-Westfalen) nur die sozialen Verhältnisse richtig beobachtet und logische Schlussfolgerungen gezogen. Oidtmann registrierte, dass vornehmlich die großen Hafenstädte und Textilzentren betroffen waren, die Pocken die kalte Jahreszeit bevorzugten und auf dem Lande Cluster nur in einzelnen Dörfern auftraten.
Beginn und Verbreitung sprachen gegen eine vornehmliche Ansteckung von Mensch zu Mensch, sondern für ein Alltagsprodukt als Vermittler. So wie der englische Arzt John Snow (1813-58) 30 Jahre zuvor unerklärliche Epidemien von Durchfallerkrankungen in London auf fäkal verseuchte Brunnen zurückführen konnte, erkannte Oidtmann den entscheidenden Zusammenhang mit der Schafwolle, die damals eine weit größere Rolle spielte als heute. Das Schlüsselerlebnis war ein Pockenausbruch bei Beschäftigten einer Papierfabrik, die die dafür verwendeten Lumpen aus Schafwolle sortierten.
Schafzüchtern, Hirten und Tierärzten war die Problematik der Schafpocken seit Jahrhunderten bekannt. In Schweden wurde aus diesem Grund 1765 die gesamte Schafzucht eingestellt und Wolle nur noch importiert. Seit dem frühen 16. Jahrhundert waren unter Schafzüchtern Strategien bekannt, die Schafpocken unter Kontrolle zu halten. Spätestens durch Experimente eines Mailänder Arztes um das Jahr 1806 musste man auch in der Humanmedizin wissen, dass die Pocken der Schafe bei Menschen das gleiche Krankheitsbild erzeugen. Einen kausalen Zusammenhang zwischen den Produkten pockenkranker Schafe mit dem Auftreten von Pocken bei Menschen scheint aber niemand hergestellt zu haben.
Noch vor den Menschenpockenimpfungen wurden Schafe blutigen Einritzungen mit Eiter aus Blasen erkrankter Tiere unterworfen, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Es trat allerdings das Gegenteil ein. Die Krankheit breitete sich schneller in einer Herde aus und wurde tödlicher. Man hätte vor Beginn menschlicher Impfungen also längst Bescheid wissen müssen, dass invasive Immunisierungsversuche kontraproduktiv waren. Wieso in England, dem Land der Schafe, die äußerst seltenen Pocken bei Kühen als Rettungsanker erkoren wurden, ist nicht nachvollziehbar.
Oidtmann konnte mit seiner Analyse der Warenströme von Schafwolle und Schaffellen als erster und einziger erklären, wie es zu einer Abnahme und einem zeitweisen Ausbleiben der Pocken und dann zu überraschenden Epidemien kommen konnte. Die massive Pockenepidemie in den Jahren 1870-3 in fast allen europäischen Großstädten mit Überseehäfen und/oder Textilindustrie war auf den Massenimport verpockter Schafwolle aus Australien und Südamerika zurückzuführen. Es waren also keineswegs ungeimpfte französische Kriegsgefangene, die eine durchgeimpfte preußische Bevölkerung im deutsch-französischen Krieg 1870/1 infizierten. Es waren die Wolluniformen.
Nicht entfettete und desinfizierte Schafwolle konnte auch die bevorzugte Erkrankung in Wintermonaten und von Kleinkindern erklären. Schafwollprodukte nutzte man, um sich und vor allem Kleinkinder warm zu halten. Berichte über überraschende Heilungen Pockenkranker, die ihre wärmenden Betten verließen und schwere Verläufe bei Menschen in überwärmten Krankenlagern erscheinen so plausibel. Überall musste es vor allem die armen Gesellschaftskreise treffen, wo man in den Städten wenig Wasser für Reinigungszwecke hatte und Kleidungsstücke zum Wechseln fehlten.
Ärzteschaft und große Teile der Bevölkerung wollten davon nichts wissen. Trotz eines wachsenden Widerstandes gegen Impfungen, die zunehmend nur noch durch Zwangsgesetze in den europäischen Polizeistaaten durchgesetzt werden konnten, unterwarfen sich die Menschen bei Epidemien den Impflanzetten und fachten damit das Infektionsgeschehen an.
Nicht irgendeine Form der Impfung beendete die Pockenepidemien im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts, sondern die frühzeitige Erkennung und Isolierung kranker Schafe, Verkaufsverbote für Schafe aus Herden mit Krankheitszeichen und die Desinfektion von Schafwolle und Schaffellen vor ihrer Verarbeitung. Die inzwischen fast ausgestorbene „chemische Textilreinigung“ von Kleidungsstücken hatte hier ihren Ursprung und erwies sich als weiteres effektives Instrument eine Verbreitung der Pocken in der Bevölkerung einzudämmen.
Reinhardhauke, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Der Name Oidtmann ist heute nur noch als Glasmalerei-Unternehmen bekannt. Seinen bahnbrechenden Erkenntnissen zollte niemand Anerkennung. Er taucht heute bestenfalls noch als „Impfgegner“ in der Literatur auf. Oidtmann erlebte immerhin das Abflauen der Pocken als er vorzeitig mit 57 Jahren 1890 verstarb.
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Lernen aus alten Büchern: Die Pocken eine Zivilisationsseuche und Medizindesaster