Bilder und Skulpturen sind die ältesten Überlieferungen menschlicher Existenz. Höhlenmalereien oder der „Venus“ von Willendorf (Wachau) attestiert man ein Alter von weit über 10.000 Jahren. Warum hätte sich vor einem Jahrtausend niemand gefunden, Burgen, Hallen und Kirchen in ihrer pittoresken Einbettung in die Umgebung festzuhalten? Warum hätten ihre Eigentümer im Gegensatz zu allen späteren Generationen kein Bedürfnis haben sollen, ein Abbild für Familie und Nachwelt zu schaffen?
Wir glauben, unsere Vergangenheit der letzten drei Jahrtausende einigermaßen zu kennen. Dafür gingen wir in die Schule und auf Universitäten. Allerdings beruht unser vermeintliches Wissen auf Schriftstücken, die zumeist erst vor einigen Jahrhunderten in der Renaissance angeblich als Kopien älterer Vorlagen verfertigt wurden. Abbildungen von Städten und Landschaften vor dem 16. Jahrhunderts sind dagegen Raritäten. Warum hätten Menschen zwar seit 2500 Jahren ihre Ansichten aufgeschrieben, aber jahrhundertelang keine Zeichnungen und Bilder angefertigt?
Die Stunde Null des Bildgedächtnisses
Albrecht Dürer (1471-1528) wäre einer der Pioniere gewesen, der Landschaften und Städte gemalt hätte. Seine Werke überdauerten nicht nur wegen ihrer Qualität, sondern auch weil er mit seiner Signatur „AD“ der Propagandist einer neuen Zeitrechnung war. Landschaften mit Städten und Dörfern gab es vorher bestenfalls als Bildhintergrund in Gemälden biblischer Szenen ohne Realitätsanspruch. Selbst die älteste Darstellung des vermeintlich „ewigen“ Rom datiert von 1457. Wie Städte im Mittelalter wirklich aussahen, lässt sich nur vermuten.
An mangelnder Zeichen- und Maltechnik oder fehlenden Leinwänden kann es nicht gelegen haben. Die meisten Bilder von Städten stammen sogar erst aus dem 17. Jahrhundert. Das Atelier von Matthäus Merian (1593-1650) verewigte innerhalb weniger Jahrzehnte die meisten europäischen Städte. In Österreich kam Georg Matthäus Vischer (1628-96) in unglaublichem Tempo dieser Aufgabe nach. Damit wurde eine „Stunde Null“ für das Bildgedächtnis geschaffen. Kirchen und Schlösser gelten seither zusammen mit den Stadtbefestigungen als vermeintlicher Urzustand.
Visuelles Framing
Das flächendeckend ziemlich abrupte Auftauchen der Stadtansichten spricht dafür, dass unerwünschte Botschaften aus der davorliegenden Vergangenheit gezielt unterdrückt wurden. Die offiziell genannten Begründungen für das Fehlen älterer Bilder sind schlecht verhüllte Schutzbehauptungen. Natur und menschliche Siedlungen wären angeblich erst mit der Renaissance und einem gesteigerten Bewusstsein für die eigene Person zum Thema geworden. Kriege, Not und die Wirren der Zeit hätten für Schwund gesorgt. Doch warum so systematisch und ohne die Beliebigkeit des Zufalls?
Die Hauptverantwortlichen für das Fehlen von Bildern müssen in der lateinischen Westkirche gesucht werden; denn dort lag bis ins 15. Jahrhundert das weitgehende Monopol für Texte und Bilder. Der Machtanspruch der geistlichen Herren mit alles überragenden Türmen und Inbesitznahme von Markthallen als Kirchenräumen war erst ab dem 16. Jahrhundert flächendeckend vollzogen. Bescheidene Kapellen vor der Stadtmauer oder die ursprünglich schlichten Versammlungsräume wollte man nicht konserviert sehen.
Aber auch die adeligen Ritter legten sicherlich Wert darauf, dass ihre anfänglich vergleichsweise primitiven Burgställe mit Holzpalisaden vergessen und ihre immer imposanteren Steingebirge im kollektiven Gedächtnis haften blieben. Das Stundenbuch des Herzogs von Berry enthält im frühen 15. Jahrhundert schon prächtige Gebäude, die andernorts noch auf sich warten ließen. Deswegen kommt seinem Auftrag heute ein Alleinstellungsmerkmal zu.
Für Papstkirche und weltliche Feudalherren ging es allerdings nicht nur um die Optik. Man fürchtete schlichtweg eine Überlieferung, die gezeigt hätte, dass es vor ihrer Herrschaft andere gesellschaftliche Verhältnisse gab. Städteansichten ohne Kirchen und Wehrmauern, Landschaften ohne Militarisierung mit Burgen sollten nicht im Gedächtnis verbleiben. Eine sichtbar autoritär beherrschte Landschaft mit hohen Gebäuden sollte das neue Normal darstellen. Ansonsten hätte den Untertanen dämmern können, wie die kirchliche und weltliche Herrschaft allen früheren Besitz ergriffen und erst dann ihre Hoheitszeichen gesetzt hatte. Es sollte keine Erinnerung an eine Zeit mit mehr Rechten, mehr Eigentum und mehr Freiheiten geben.
Auf Scheiterhaufen verbrannten nicht nur Menschen und Schriften, die den Mächtigen unbequem waren, sondern auch unerwünschte Bilder. Oft konnte man für diese „Vergangenheitsbewältigung“ sogar die Opfer als Täter rekrutieren. So geschehen in den Bilderstürmereien im Rahmen der Bürgerrevolten und den Kriegen mit unbarmherziger Zerstörung von städtischen und ländlichen Kulturgütern.
Verräterische Spuren
Wer heute mit wachen Augen Altstädte vor Ort und in Flugansichten studiert, wird immer wieder fündig werden. Viele Marktplätze wurden erkennbar durch Kirchenbauten verkleinert oder komplett überbaut. Die frühesten Gotteshäuser standen oft noch außerhalb der Stadtmauern. Manche „Hallenkirchen“ kaschieren den ursprünglichen Charakter einer Markthalle bis heute nur notdürftig. Nahezu alle „Kirchtürme“ mit Entstehung vor dem 15. Jahrhundert lassen bei genauer Betrachtung erkennen, dass es sich ehemals um Wehr- und Wachtürme der Bürgerschaft handelte, die man durch den Anbau von Kirchenschiffen vereinnahmte.
Der Markt von Krakau lässt noch heute erkennen, wie es ehemals bei uns aussah: als Mittelpunkt eine kommerzielle Markthalle, die später als Basilika spirituell zweckentfremdet wurde, ein freistehender Stadtturm ohne Bezug zur Halle, und eine Kirche bestenfalls an der Seitenlinie:
Toskanische Städte mit zahlreichen erhaltenen Wohntürmen der Patrizierfamilien geben uns noch heute die Ansicht für Städte vor der kirchlichen Machtübernahme. In Bologna standen etwa 100 bis 97m hohe Wohngebäude! Mit weniger Stockwerken vereinzelt auch nördlich der Alpen (z.B. Regensburg, Salzburg). Die Silhouette von San Gimignano (Titelbild) war nicht außergewöhnlich. Bis zu dieser Zeit wurden die Stadtsilhouetten von bürgerlichen Türmen und nicht von Kathedralen geprägt. Seit der Renaissance beherrschen Kirchtürme jede Ansiedlung, wie es uns die Geistlichkeit als Urzustand vorgaukeln will.
Fazit
Bilder überdauerten nur, wenn das darauf Sichtbare der gewünschten Geschichtserzählung entsprach. Städte und Dörfer sollten in der kollektiven Erinnerung schon immer so ausgesehen haben wie ab dem 17. Jahrhundert: dominiert von Kirchen. Burgen sollten ihre provisorische Vergangenheit hinter sich gelassen haben. Entweder waren sie zu Ruinen verkommen oder erstrahlten als Schlösser. Ansichten, die noch auf egalitärere Verhältnisse rückschließen ließen, vielen der Zensur zum Opfer.
Titelbild: San Gimignano Ingo Mehling, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons